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28 Jahre nach Wiedervereinigung 28 Jahre nach Wiedervereinigung: Ossi und Wessi: Mein Blick auf die deutsche Einheit

Von Andreas Montag und Markus Schwering 03.10.2018, 06:00
Das Staatswappen der DDR mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz
Das Staatswappen der DDR mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz dpa-Zentralbild

Halle (Saale)/Köln - Kein Draht zwischen West und Ost? Ein Redakteur des Kölner Stadt-Anzeigers und einer der MZ schildern ihre Sicht nach 28 Jahren Wiedervereinigung.

Andreas Montag, Leiter des Kulturressorts Mitteldeutsche Zeitung

Es hatte so großartig angefangen. Im Herbst 1989 kündigte das DDR-Volk seiner Obrigkeit die Gefolgschaft. Ein Jahr später kam, was viele nicht für möglich gehalten hätten: Das Ende der Teilung Deutschlands, die ein Ergebnis des von den Deutschen begonnenen und verlorenen Weltkrieges sowie der nachfolgenden Konfrontation der beiden globalen Machtblöcke war.

Nun aber sollte einig Vaterland sein, dessen Leitwährung Freiheit hieße. Milch und Honig flössen fortan, in Magdeburg wie auf Mallorca, erwarteten nicht wenige aus Neufünfland. Ostdeutschland würde sich in einen einzigen, duftenden Intershop für jedermann verwandeln - mit allen Sicherheiten der alten, knirschend untergegangenen Rundum-Versorgungsrepublik.

Dort war vieles schlecht gewesen. Aber nicht alles. Letzteres sollte schnell zum Schlagwort werden, nachdem die blühenden Landschaften zum Beispiel im mitteldeutschen Chemiedreieck bald ziemlich verdorrt aussahen. Arbeitslosigkeit war ein Wort, das man im Osten nicht gekannt - und in der „Tagesschau“ offensichtlich überhört hatte. Der „Jammer-Ossi“ war geboren. Und zuhören brauchte man dem sowieso nicht. Das ist einer der verhängnisvollsten Fehler im Einigungsprozess gewesen. „Es wächst zusammen, was zusammen gehört“ hatte Willy Brandt nach dem Mauerfall gesagt. Aber er hatte dabei garantiert weder an Gleichgültigkeit noch an Wildwuchs gedacht.

Wenn heute, die rechtsextremen Auswüchse von Chemnitz und Köthen vor Augen, mit den Fingern auf die ostdeutschen Länder gezeigt wird, die stärker gespalten sind als es der Westen ist, macht wieder das Wort von den undankbaren Ossis die Runde. Denen ist tatsächlich viel zugute gekommen, allein in der Infrastruktur. Da entwickelt man in mancher westdeutschen Kommune zu Recht Neid. Aber Einigkeit und Recht und Freiheit wachsen weder aus Wohltaten noch aus Beschwörungen.

Natürlich geht es den meisten Ostdeutschen relativ gut. Aber die Enttäuschung vieler, die vom Protest bei Montagsdemonstrationen über den politischen Unmut der Pegida-Aktivisten und ihrer Mitläufer bis zur wachsenden Wählerbasis für die rechtspopulistische AfD manifestiert ist, hat auch nachvollziehbare Gründe. Durch Arroganz und fehlende Nähe zu den „kleinen Leuten“ haben Politiker der etablierten Parteien selbst daran mitgewirkt.

Die innere Einheit der Deutschen ist weit entfernt. Es geht dabei aber nicht primär um Ost oder West, sondern um Haltung. Sie fehlt, wo Menschen Orte nicht verlassen, an denen Extremisten den Hitlergruß zeigen. Andere rufen zu Hass auf. Diese sind es, die die Republik spalten wollen. Und an einem Demokraten ist es, das nicht zuzulassen.

Auf der nächsten Seite lesen Sie, welche Ansichten der Kollege aus Köln zum Thema hat.

Markus Schwering, Kulturredakteur Kölner Stadt-Anzeiger

Neulich passierte es mir wieder. Angestrengt hielt ich auf der Bahnfahrt zwischen Fulda und Eisenach Ausschau, wo der Zug denn wohl die einstige innerdeutsche Grenze passiere. Die ist selbstredend nicht mehr zu sehen, irgendwann merkte ich halt, dass ich „drüben“ war: an hektisch-farbenfroher Modernisierung und gut restaurierter Tradition wie an wenigen Überbleibseln der DDR in Gestalt von hässlichen Baracken, Garagen und tristen Katen. Wenn der Zug die belgische oder französische Grenze passiert, erwischt mich nie jenes Gefühl interessanter Fremdheit, das mich bei der Reise in den Osten immer noch befällt.

Neulich also: ICE-Fahrt von Köln nach Erfurt und dann weiter mit der Regionalbahn nach Ilmenau, wo ich einen Vortrag über die Goethe-Rezeption von Marx und Engels zu halten habe. Dort bezeichne ich Marx als analytisches Genie und empfehle auch denen, die seiner aus vergangenen Zeiten überdrüssig sein mögen, eine erneute Lektüre.

Das und mein bemühter Verzicht auf westliche Selbstgerechtigkeit scheint einige Mauern einzureißen. Und die Zusammensetzung der Zuhörerschaft allein ist schon eine ganz andere, als ich sie im „Westen“ je zu gewärtigen hätte. Im anschließenden Gespräch halte ich weitgehend den Mund, höre zu – und erhalte Einblicke in Lebenswelten, die mir fremd sind: Es ist halt etwas anderes, aus Berichten und aus der Zeitung zu erfahren, wie radikal und destruktiv der Einschnitt der Jahre nach 1989 in ostdeutsche Biografien war, als es am eigenen Leib zu erleben.

Da ist der Fabrikant, der sich selbstständig machte und von seinem amerikanischen Partner mehr oder weniger über den Tisch gezogen wurde. Da ist der ehemalige Lehrer für Staatsbürgerkunde, der eher schlecht als recht an der Volkshochschule unterkam. Und ich? Meine Lebensumstände haben sich seit den 80er Jahren nie wesentlich geändert – dies ist eine Auskunft, die mit geschäftsmäßigem Unfrohsein in Mienen, mit der Verbitterung der Betrogenen zur Kenntnis genommen wird.

Manches verstehe ich nicht. Ja, ich gebe zu, teils hilflos wie vor einer unüberwindlichen Barriere zu stehen. Immer wieder versuche ich, diese zu überwinden, indem ich ostdeutsche Bücher lese. Sie führen mich – eigentlich eine Schande, das so zu formulieren – in ein anthropologisches Reservat.

Wie aber sieht die deutsche Einheit nun aus, im Alter von 28 Jahren? Schlecht, würde ich sagen: käsig, unterentwickelt, hinkend. Vielleicht ist ja gerade ihr Nichtvorhandensein das zentrale Merkmal der Einheit. Das Anwesende definiert sich nach einer hegelianischen Denkfigur durch seine Abwesenheit. Ob solcher Auskunft kann doch kein Ostdeutscher über mich schimpfen. Oder doch? (mz)