20. Juli 20. Juli: Gefährliche Gespräche am Kamin
Halle/MZ. - Der Kamin in der Eingangshalle von Schloss Teutschenthal bei Halle spendet auch heute noch freundlich flackernde Wärme. Bei besonderen Gelegenheiten, wenn etwa Gäste zu einem Konzert in das Herrenhaus kommen oder es für eine private Feier nutzen. Mitsamt dem weiträumigen Park dient der in den letzten Jahren stilvoll wieder hergerichtete Bau nicht nur den Familien der Gebrüder Carl-Stefan und Carl-Friedrich Wentzel als Wohnsitz, sondern auch als Hotel, Begegnungsstätte und kultureller Treffpunkt. Doch nur die wenigsten Besucher wissen um die historische Bedeutung der imposanten Feuerstätte: Dieser Kamin wurde einst Zeuge verschwörerischer Gespräche gegen den Nationalsozialismus. Für Carl Wentzel (1876 - 1944), den damaligen Hausherrn, hatten sie tödliche Konsequenzen.
Der Großvater der Brüder - Pazifist, Christ und nicht nur als Agrarindustrieller ein Mann mit Weitblick - war häufig Gastgeber für Unternehmer, Politiker, Geistliche, die der Gedanke an den Widerstand gegen Hitler und sein Regime einte. Bei den Kamingesprächen wurden Pläne für ein neues, anderes Deutschland geschmiedet. So auch bei einem Treffen mit Carl Goerdeler, der als Oberbürgermeister von Leipzig aus Protest gegen die Nazis 1937 zurückgetreten war und als "ziviler Kopf des 20. Juli" zum Gründer der nach ihm benannten Widerstandsgruppe wurde. Goerdeler, von den Verschwörern gegen Hitler als Ministerpräsident vorgesehen, wollte Carl Wentzel als Landwirtschaftsminister in einer künftigen Regierung gewinnen. Doch dieser lehnte ab, ebenso wie er auch einen Mord an Hitler aus religiösen Gründen ablehnte.
"Trotzdem wurde dieses Treffen mit Goerdeler für meinen Schwiegervater letztlich zum Verhängnis", erinnert sich Lore Pfeiffer-Wentzel. Heute eine lebhafte zierliche Dame von 84, hatte sie als Ehefrau des einzigen Sohnes von Carl Wentzel eine besonders enge Bindung an ihren Schwiegervater und wurde so zur unmittelbaren Zeitzeugin der folgenschweren Ereignisse. "Wir wissen als Wirtschaftler, dass der Krieg verloren ist, hat Schwiegervater zu mir gesagt", weiß sie noch. Die Wirtschaft, das war vornehmlich Thema der Herrenrunden am Kamin, zu denen einflussreiche Industrielle wie der Stahlmagnat Paul Reusch aus dem Ruhrgebiet kamen. In der Landwirtschaft gehörte Carl Wentzel zu den führenden Unternehmern.
"Das war damals der größte Betrieb seiner Art in Deutschland", sagt Carl-Stefan Wentzel. Der Betrieb - das waren 21 Güter, mehr als 10 000 Hektar Land und 40 000 Angestellte, ein Imperium mit der Zuckerrübenproduktion als Grundpfeiler. Die Besitzungen reichten von der Saale bis an die Ostausläufer des Harzes. Ein Landstrich, den Wentzel nicht nur ökonomisch, sondern auch durch soziales Engagement prägte, so durch den Bau ganzer Siedlungen für seine Angestellten. Als "Zuckerkönig" und "Krupp der deutschen Landwirte" war Wentzel ein Unternehmer von außergewöhnlichem Weitblick und wirtschaftlichem Sachverstand. So heben es nach dem Krieg entstandene wissenschaftliche Abhandlungen hervor. "Die glückliche Verbindung ungewöhnlichen Fleißes mit ungewöhnlichen Fähigkeiten u. a. einem phänomenalen Zahlengedächtnis, das ihm jeden Verhandlungsgegner überlegen machte, ermöglichte ihm solche Leistungen", heißt es in einem Lexikon von 1957. Selbst die Nazis haben auf seine sachkundige Beratung für ihren Vierjahresplan nicht verzichten wollen. Man benötigte seinen Rat und tolerierte zunächst seine politische Distanz.
Doch war ein so exponierter Mann in Oppositionshaltung per se gefährdet. Die Nazis wollten ihn aus dem Weg haben. "Bereits aus den wenigen noch vorhandenen Unterlagen aus der Zeit vor der Verurteilung ergibt sich eindeutig der Wille führender Nationalsozialisten, Carl Wentzel zu beseitigen", resümiert eine Schrift der Technischen Universität Berlin aus dem Jahre 1981. Darin heißt es weiter: "Der Volksgerichtshof musste darum krampfhaft nach Gründen suchen, . . . um die Liquidationserwartung zu erfüllen."
Einer hatte daran ein ganz handfestes, in Hektar und Viehbestand abrechenbares Interesse - Ludolf von Alvensleben (1901 - 1970), genannt Bubi, SS-General, in Halle geboren. Die Güter der Alvenslebens um Schochwitz im heutigen Saalkreis waren seit 1849 bereits an Wentzels Vorfahren verpachtet. Die wollte er wiederhaben. Für die unmittelbare Einflussnahme Alvenslebens auf die Verurteilung Carl Wentzels gibt es vielfältige Beweise. "Mein Schwiegervater stand auf der Abschussliste", war auch für Lore Pfeiffer-Wentzel klar, als zehn Tage nach dem Stauffenberg-Attentat auf Hitler vom 20. Juli Carl Wentzel von der Gestapo abgeholt wird. Vorwurf: Hochverrat. Er habe "Werbereden gegen den Führer" in seinem Schloss zugelassen und Gäste wie Carl Goerdeler empfangen. So gellt es dem 67-jährigen Carl Wentzel aus dem Mund des berüchtigten Blutrichters Roland Freisler entgegen, als er am 13. November 1944 vor dem so genannten Volksgerichtshof in Berlin vorgeführt wird.
Einziger "Beweis" im Prozess ist das Gästebuch aus dem Schloss. Als Wentzel erfuhr, dass sein Freund Carl Goerdeler von den Nazis gesucht wurde, hatte er dessen Namen daraus gelöscht. Das genügte Freisler, auf dessen Konto nach dem Hitler-Attentat mindestens 200 Hinrichtungen so genannter Verschwörer kommen, als Beweis für die Verstrickung Carl Wentzels. Das Urteil "im Namen des deutschen Volkes": "Für immer ehrlos, wird er mit dem Tode bestraft. Sein Vermögen verfällt dem Reich."
"Schon vorher war klar, dass das Todesurteil drohte", berichtet Lore Pfeiffer-Wentzel. "Deshalb bin ich zu Alvensleben gefahren und habe ihn um das Leben meiner Schwiegereltern und meines Mannes gebeten." Nach Carl Wentzel waren auch seine Frau und der Sohn verhaftet worden. Die Antwort des beutelüsternen "Bubi" wertet Frau Lore als weiteren eindeutigen Beweis seiner wahren Absichten: Er wolle sich einsetzen, aber "für Ihren Schwiegervater kann und will ich auch nichts tun".
38 Tage, 37 Nächte sitzt Carl Wentzel nach seinem Todesurteil in Einzelhaft, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Am 20. Dezember 1944, elf Tage nach seinem 68. Geburtstag, wird er in der Hinrichtungsstätte Plötzensee gehängt. "Unser Großvater fand einen entsetzlichen Tod", sagt Enkel Carl-Stefan. "Ihm wurde eine dünne Drahtschlinge um den Hals gelegt. Die Luft wurde ihm abgeschnürt, die Kehle langsam zerschnitten." Die Asche des "Volksschädlings" wird als Friedhofsdünger verstreut.
Ella Wentzel ist zu der Zeit noch in Ravensbrück gefangen, der Sohn ebenfalls in Sippenhaft. Erst später erfahren sie vom grausamen Tod des Ehemannes und Vaters. Einen Abschiedsbrief gibt es. "Aufrecht, getrost und unschuldig gehe ich in den Tod", lautet die letzte Zeile. Am Anfang stehen Segenswünsche für die Seinen - und für den Betrieb und die darin Beschäftigten.
Nach zwei Enteignungen - erst durch die Nazis und nach 1945 durch die sowjetische Besatzung - gehören nach der Rückübertragung entsprechend des Einigungsvertrages, der Verfolgten des Nationalsozialismus und ihren Erben die Eigentumsrückgabe zugesteht, Teile davon heute wieder den Brüdern Wentzel. Auf das Vermächtnis des Großvaters angesprochen, verweisen sie auf das Familienwappen, in dem ein Landmann in der einen Hand eine Ähre, in der anderen drei Ähren hält. "Wer dafür sorgt, dass dort, wo ein Halm wächst, drei Halme wachsen, hat mehr fürs Vaterland getan als ein General, der eine Schlacht gewinnt." Dem Leitspruch Carl Wentzels fühlen sie sich verpflichtet.
Nachdem die Wentzel-Brüder wieder im Schloss waren, haben sie ein Bild ihres Großvaters malen lassen. Der Künstler Christoph Rackwitz ließ es nicht bei einem Porträt bewenden, sondern fasste in dem Gemälde symbolisch den ganzen Lebenslauf des bemerkenswerten Mannes wie in einem Prisma zusammen. Das Bild fand seinen Platz - wie könnte es anders sein - über dem Kamin in der Halle.