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19. August 1989 19. August 1989: Die spektakuläre Massenflucht in Ungarn

Von Jutta Schütz 12.08.2004, 05:53
DDR-Flüchtlinge mit ihren Kindern gehen durch das geöffnete Grenztor von Ungarn aus nach Österreich (Archivbild vom 19. August 1989). Sie nutzten damals ein paneuropäisches Picknick an der ungarisch-österreichischen Grenze, bei dem ein Grenztor symbolisch geöffnet wurde, zur Flucht in den Westen. (Foto: dpa)
DDR-Flüchtlinge mit ihren Kindern gehen durch das geöffnete Grenztor von Ungarn aus nach Österreich (Archivbild vom 19. August 1989). Sie nutzten damals ein paneuropäisches Picknick an der ungarisch-österreichischen Grenze, bei dem ein Grenztor symbolisch geöffnet wurde, zur Flucht in den Westen. (Foto: dpa) B0196 Votava

Berlin/dpa. - Die Hoffnung für viele DDR-Bürger hieß im Sommer1989 Ungarn. Im Trabi, Wartburg oder per Zug machten sie sichunauffällig auf den Weg in die Freiheit - immer in Angst, auf derFlucht in den Westen zu zeitig entdeckt zu werden. Das aufmüpfigeBruderland hatte bereits im Mai begonnen, den «Eisernen Vorhang» zuÖsterreich abzubauen. Als am 19. August vor 15 Jahren die Grenze beiSopron für ein pan-europäisches Fest einige Stunden geöffnet wurde,nutzten hunderte DDR-Bürger dies zu einer ersten Massenflucht. Damitwar der Damm gebrochen.

Unzufriedenheit und Wut hatten sich so angestaut, dass viele keineAlternative mehr in der DDR sahen und nur noch weg wollten.Massenfluchten und machtvolle Demonstrationen läuteten das Ende desArbeiter- und Bauern-Staates ein. Am 9. November 1989 fiel die Mauerendgültig.

Als schon Tausende die DDR verließen, ließ Staats- und ParteichefErich Honecker noch starrköpfig verbreiten, keinem werde eine Tränenachgeweint. Immer offensichtlicher wurde, dass die «Betonköpfe» imSED-Politbüro den Kontakt zu ihrem Volk verloren hatten. Forderungennach Reformen verhallten. Der oberste Machtzirkel hielt jedoch sturam offiziellen Kurs fest. Honecker behauptete sogar öffentlich, dieMauer werde noch in 50 bis 100 Jahren stehen.

Ziel vieler Flüchtlinge war zunächst die bundesdeutsche Botschaftin Budapest. Mitte August 1989 musste die hoffnungslos überfüllteBonner Vertretung in der ungarischen Hauptstadt geschlossen werden.Mehr als 180 Ausreiswillige harrten dort aus - mit ihrer Ungewissheitüber das weitere Schicksal. Derweil warf Ost-Berlin derBundesrepublik vor, den DDR-Bürgern widerrechtlich Aufenthalt zugewähren. Das werde die Beziehungen belasten.

Schon zuvor war die Bonner Vertretung in Ost-Berlin für denPublikumsverkehr geschlossen worden - auch wegen Überfüllung mit DDR-Flüchtlingen. In den Verhandlungen mit der Bundesrepublik blieb dieDDR zunächst hart. Bestenfalls Straffreiheit könnten die DDR-Bürgerbei einer Rückkehr erwarten, eine «wohlwollende Prüfung» derAusreise-Anträge wurde nicht zugesagt. Einige Flüchtlinge, die dieUngewissheit nicht ertragen konnten, kehrten nach Hause zurück.

Bis zu 1,5 Millionen DDR-Bürger hatten nach damaligen Angaben desBundesnachrichtendienstes ihre Ausreise in den Westen beantragt.Besonders im Süden der DDR sei die Zahl der Ausreisewilligen großgewesen. Der inzwischen gestorbene Schriftsteller Stefan Heym sagtedamals: «Die Menschen in der DDR haben es satt, wie minderjährigeKinder behandelt zu werden.»

Die Zeit war nicht mehr zurückzudrehen. Am 4. September 1989versammelten sich die ersten couragierten Bürger öffentlich zu einerMontagsdemo in Leipzig. Von Woche zu Woche kamen mehr Menschen zu denfriedlichen Demonstration, die mit dem Ruf «Wir sind das Volk» in dieGeschichte eingingen. Hauptforderungen waren Reisefreiheit und dieAuflösung des Stasi-Ministeriums.

Am 11. September öffnete die ungarische Regierung ohne Absprachemit der DDR die Grenze nach Österreich für alle ausreisewilligenFlüchtlinge. Rund 30 000 Menschen verließen auf diesem Weg dann bisEnde September die DDR. Ende des Monats verkündete der damaligeBundesaußenminister Dietrich Genscher (FDP) in der überfülltenBotschaft in Prag vor jubelnden DDR-Flüchtlingen ihre Ausreise in dieBundesrepublik.

Auch wenn sich die DDR-Führung weiter unbeeindruckt zeigte und mitgroßem Pomp und einer Militärparade den 40. Jahrestag der DDR am 7.Oktober feiern ließ, war gut einen Monat später nichts mehr übrig vonder Arroganz der Macht. Das Volk hatte endgültig mit den Füßenabgestimmt. Aus dem Motto «Wir sind das Volk» wurde der Ruf «Wir sindein Volk».

Doch auf die Euphorie, den Freudentaumel über die überwundeneTeilung Deutschlands folgte bald Ernüchterung. Der Osten mit seinerhohen Arbeitslosigkeit und all ihren Folgen gilt vielen Politikernals Sorgenkind. Auch das Ringen um die innere Einheit dauert an. EinSchlussstrich bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit könne nochlängst nicht gezogen werden, sagt die frühere BürgerrechtlerinMarianne Birthler. Mit der friedlichen Revolution vom Herbst 89hätten viele Ostdeutsche Mut und Zivilcourage bewiesen, betont dieheutige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen. Das dürfe nichtvergessen werden.