1. MZ.de
  2. >
  3. Deutschland & Welt
  4. >
  5. Öl: Öl: Weltweit größte Raffinerie entsteht in Indien

Öl Öl: Weltweit größte Raffinerie entsteht in Indien

Von Can Merey 28.11.2006, 10:25
An der westindischen Küste Jamnagar steht die derzeit drittgrößte Raffinerie der Welt, der Industriekomplex von Reliance Industries (undatiertes Handout). Reliance Industries ist Indiens größte private Firma und verarbeitet rund 660.000 Barrel Öl am Tag. (Foto: dpa)
An der westindischen Küste Jamnagar steht die derzeit drittgrößte Raffinerie der Welt, der Industriekomplex von Reliance Industries (undatiertes Handout). Reliance Industries ist Indiens größte private Firma und verarbeitet rund 660.000 Barrel Öl am Tag. (Foto: dpa) Reliance industries

Jamnagar/dpa. - Der abendliche Treffpunkt besteht aus nichtviel mehr als Holzwänden und einem Wellblechdach - eine typischeindische Teestube, wie sie im landesweit seit Urzeiten zu finden ist.Blickt man aber über das Wellblechdach hinaus, erstreckt sich hinterder Hütte das neue Indien in den Himmel. Hier, in Jamnagar an derwestindischen Küste, steht die drittgrößte Raffinerie der Welt. Baldwird sie die größte weltweit sein.

Die vielen tausend Lichter an den Türmen der Raffinerie lassen dieSterne blass erscheinen, aus der Ferne wirkt der Industriekomplex wieeine futuristische Stadt. Das Areal belegt über ein Drittel derFläche Manhattans, und mit etwas Fantasie erinnern zwei der Türme inder Nacht tatsächlich an die Twin Towers, die bei den Anschlägen inNew York am 11. September 2001 einstürzten. Alles hier wirktüberdimensioniert. Manche der Rohre in dem unvorstellbaren Gewirr,aus dem es zischt und raucht, sind so groß, dass man in ihnen Autofahren könnte. In den schwarzen Öltanks könnte man problemlos Fußball spielen, sie haben einen Durchmesser von 92 Metern.

Reliance Industries, Indiens größte private Firma, hat dieRaffinerie in Jamnagar aus dem Steppenboden gestampft. 5000 KilometerRohre verlegten die Arbeiter, was etwa der Distanz Moskau-Gibraltarentspricht. 10 000 Tonnen Stahl wurden verbaut, damit hätte derEiffelturm 16 Mal errichtet werden können. 14 000 Kilometer Kabel -rund die doppelte Länge der indischen Küste - wurden verlegt.Reliance war ein Neuling im Ölgeschäft, als der Bau 1996 begann.Heftige Wirbelstürme machten zwischendurch fast alle Fortschrittezunichte. Trotzdem dauerte es nur drei Jahre, bis die Raffinerie 1999den Betrieb aufnahm - normal wären vier bis fünf Jahre gewesen.

Die Raffinerie hat wenig mit dem Indien außerhalb der Werkstore zutun. Alles ist sauber und aufgeräumt, von streunenden Kühen istnichts zu sehen, nirgendwo liegt auch nur ein Fetzen Papier herum.Wer auf dem 170 Kilometer langen Straßennetz innerhalb des Geländesdie Verkehrsregeln nicht eisern einhält, kriegt vom Werksschutz einesaftige Strafe aufgebrummt und kommt nicht mit etwas Schmiergelddavon. Auch wenn im vergangenen Oktober erstmals ein Feuer ausbrachund ein Mitarbeiter dabei verletzt wurde: Die überall präsentenSicherheitshinweise scheinen ernst genommen zu werden - alles andereals typisch für den Subkontinent.

«Es ist leicht, die Raffinerie in die Luft zu jagen», sagt einIngenieur. «Es ist sehr schwer, sie wieder aufzubauen.» Was dieRaffinerie aber besonders vom Rest des mit 1,1 Milliarden Einwohnernnach China bevölkerungsreichsten Landes unterscheidet: «Sie findenhier keine Menschen», erzählt der Ingenieur. Fast keine jedenfalls.Die Anlage läuft vollautomatisiert und wird mit Computern ausbunkerähnlichen Räumen hinter Panzertüren gesteuert.

Nur zur Wartung und zur Entnahme von Proben laufen einige wenigeSpezialisten mit Plastikhelmen über das Gelände, und auch das nur, umdie Ergebnisse mit denen der Computer abzugleichen. 16 Menschensitzen in dem Kontrollzentrum, das den Raffinerieteil des Werks, dasunter anderem auch noch 40 Prozent des Flüssiggasbedarfs Indiensproduziert, steuert. «Wir können von hier aus alle Prozesse startenund stoppen», sagt Sektorchef D. M. Katre, stolz überblickt er durcheine Panoramascheibe mehrere Dutzend Computerbildschirme eine Etagetiefer. «Das ist das Nervenzentrum des Komplexes.»

Am Eingang des Nervenzentrums erinnert ein mit einerBlumengirlande geschmücktes Porträt an den Mann, der Reliance aus demNichts schuf - es ist eine der Wundergeschichten, die gerne erzähltwerden, wenn es um den indischen Wirtschaftsaufschwung geht. DirubhaiAmbani wurde 1932 in eine einfache Familie in Gujarat, jenemBundesstaat, in dem er auch die Raffinerie bauen ließ, geboren. Mit16 ging er nach Jemen und arbeitete dort unter anderen an einerTankstelle. Zehn Jahre später kehrte er in seine Heimat zurück undgründete mit weniger als 400 Dollar Eigenkapital Reliance.

Kritiker werfen Reliance vor, nicht immer mit sauberen Mittelngearbeitet zu haben. Dem wirtschaftlichen Erfolg tut die Kritikkeinen Abbruch. Was als Textilunternehmen begann, zählt heute zu den200 profitabelsten Firmen weltweit. Im vergangenen Jahr zerstrittensich die beiden Söhne des 2002 verstorbenen Dirubhai Ambani, dasUnternehmen wurde aufgeteilt. Mukesh Ambani führt nun RelianceIndustries und damit auch die Raffinerie. Ihren Bau entschiedReliance damals gegen den Rat von Experten. Sie hatten die Neulingeim Öl-Business eindringlich vor dem «lausigen Geschäft» gewarnt.

Heute nennt das Unternehmen die Raffinerie sein «Kronjuwel». Sieverarbeitet 660 000 Barrel am Tag und liegt weltweit an Platz drei.Neben dem «Kronjuwel» soll nach dem Willen von Reliance Industriesein neues Schmuckstück entstehen. Der Startschuss fiel am 1. Dezembervorigen Jahres, die Pläne sehen den Betriebsbeginn der neuenRaffinerie im Dezember 2008 vor. «Wir versuchen aber, das Ziel nochzu unterbieten», sagt der Direktor von Reliance Industries, Hital R.Meswani. Auch sein Berufsleben ist eine dieser indischenErfolgsgeschichten: Mit Mitte 30 hat es der bescheiden auftretendeManager auf der Karriereleiter ganz weit nach oben gebracht.

Sechs Milliarden Dollar sind für die neue Raffinerie veranschlagt,in Spitzenzeiten sollen bis zu 100 000 Menschen auf der Baustellearbeiten. Danach soll die Raffinerie 580 000 Barrel verarbeiten, dieGesamtkapazität des Standorts Jamnagar läge dann bei 1,24 MillionenBarrel pro Tag - so viel wie nirgendwo sonst auf der Welt. AlsStandort für günstige Dienstleistungen macht Indien schon lange vonsich reden, als verlängerte Werkbank des Westens gilt dagegen China.Die neue Raffinerie ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Inder auchim Industriebereich inzwischen mächtig aufrüsten.

Bereits die erste Raffinerie produziert hauptsächlich für denExport, die zweite wird das exklusiv tun. Sie entsteht in einer derneuen indischen Sonderwirtschaftszonen, nach deren Bestimmungen inden ersten fünf Jahren des Betriebs die gesamten Exporterlösesteuerfrei bleiben, weitere fünf Jahre müssen nur 50 Prozentversteuert werden. Das importierte Rohöl muss eben so wenig verzolltwerden wie die später ausgeführten Treibstoffe.

Zum Erfolgsrezept soll die Fähigkeit der neuen Anlage werden, auchdas schlechteste und billigste Rohöl zu den hochwertigsten und damitteuersten Treibstoffen zu verarbeiten. Da der Vorrat an qualitativhochwertigem Rohöl weiter abnimmt, wird immer mehr schweres,schwefelreiches Öl gefördert. Der Preisunterschied betrug beiarabischem Öl im vergangenen Jahr rund 5 Dollar pro Barrel.Gleichzeitig werden die Umweltschutzbestimmungen im Westen schärfer -die Nachfrage nach hochwertigen schadstoffarmen Treibstoffen steigt.

«Wir können praktisch jede Art von Rohöl verarbeiten», sagtMeswani. Die aus dem minderwertigen Öl entstehenden Treibstoffewürden auch die schärfsten Umweltbestimmungen in Europa und den USAerfüllen. Von den mehr als 660 Raffinerien weltweit könnten dasderzeit nur rund 30 leisten. Ältere Anlagen seien dazu nicht in derLage, und nach Meswanis Angaben haben weltweit 72 Prozent allerRaffinerien 25 Jahre oder mehr auf dem Buckel, in Europa und den USAhaben dieses Alter fast alle Raffinerien überschritten. Zudem seienderzeit fast alle Raffinerien bereits zu 95 Prozent ausgelastet.

Fast überall sei die Modernisierung verschlafen worden, sagtMeswani. Die Konkurrenz komme frühestens 2010 mit Anlagen auf denMarkt, die Jamnagar das Wasser reichen könnten. Für ihn hat Jamnagareine Bedeutung weit über den Subkontinent hinaus. Meswani sieht «dasgoldene Raffineriezeitalter für Asien» aufziehen. Reliance baue «eineRaffinerie für den Westen, stationiert in Indien», sagt er. Und mehrals das: Die Raffinerie sei auch eine Kampfansage an diejenigen, dieglaubten, dass China Indien im Industriebereich immer voranschreite.

An Selbstbewusstsein mangelt es bei Reliance Industries nicht. Diebereits arbeitende Raffinerie sei «ein Geschenk an die Nation, einindustrielles Wunder», heißt es wenig bescheiden in einem pompösenWerbefilm des Unternehmens, der Besuchern in Jamnagar als allererstesvorgeführt wird. Doch auch abseits der offiziellen Firmenwerbung istden Mitarbeitern ihr Stolz anzumerken. Verträumt lässt ein Reliance-Ingenieur von einer Plattform in fast 100 Meter Höhe aus seinen Blicküber den ausladenden Komplex schweifen, dann wagt er den Vergleichmit Indiens berühmtestem historischen Bauwerk. «Das hier», sagt erehrfurchtsvoll, «das ist unser Taj Mahal».