Medizin Medizin: Schonung für die Nerven
HALLE/MZ. - Ein Akustikusneurinom tritt selten auf, wächst langsam und gehört zu den gutartigen Tumoren. Dennoch, die Diagnose kann für Patienten weit reichende Folgen haben. Denn die Geschwülste wachsen in der hinteren Schädelgrube an Nervensträngen, die für das Gehör und die Gesichtsmuskulatur zuständig sind. Wird der Tumor nicht operiert, stirbt der Patient daran. Wird die Geschwulst entfernt, können Gesichts- und Hörnerven geschädigt werden. "Insbesondere eine Gesichtsnervenlähmung kann für Patienten schwere soziale Einschränkungen mit sich bringen. Manche trauen sich kaum noch aus dem Haus", sagt Christian Scheller, Neurochirurg und Oberarzt an der Poliklinik für Neurochirurgie des Universitätsklinikums Halle. "Bei den Operationen ist es deshalb wichtig, die Nerven zu schonen."
Eine vielversprechende Methode, um genau das zu erreichen, untersuchen derzeit sechs Universitätskliniken in Deutschland. Unter Federführung des Uniklinikums Halle sind Kliniken in Erlangen, Göttingen, Günzburg, Tübingen und Würzburg an der vorwiegend aus öffentlichen Mitteln finanzierten Studie beteiligt. Christian Strauss, Direktor der Universitätsklinik Halle und Neurochirurg, hat gemeinsam mit Scheller eine Medikamentengabe entwickelt, die am Tag der Operation und über einige Tage danach verabreicht wird. Die Wirkstoffe sollen die Nerven stabilisieren und deren Regeneration fördern. "Es handelt sich um die weltweit erste Multicenterstudie, in der mehrere Kliniken untersuchen, ob eine prophylaktische Medikamentengabe vor geplanten Eingriffen das Gehirn besser vor Folgeschäden schützen kann", sagt Strauss, der seit mehr als 25 Jahren die Behandlung von Akustikusneurinomen erforscht.
Die Medikamentenkombination ist bereits regelmäßig im Einsatz, so Scheller. "Seit den 80er Jahren wird Nimopidin in der Chirurgie im Fall von Hirnblutungen eingesetzt. In Kombination mit Hydroxylethylstärke zur Blutauffüllung wird es auch bei der Entfernung von Akustikusneurinomen verwendet", so Scheller. Bisher aber nur dann, wenn während der Operation Nervenschäden auftreten. 2003 hatte Scheller die Idee, die Medikamente vorbeugend zu geben. In einer Pilotstudie an der Universität Ulm testete er das Verfahren. "Die Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass die prophylaktische Medikamentengabe die Nerven besser schützt und die Regeneration der Nerven in den Monaten nach der Operation fördert", so Scheller.
Sollten sich die Ergebnisse in der aktuellen Studie bestätigen, könnte die Behandlung ein Standardverfahren bei der Operation von Akustikusneurinomen werden. "Es ist wichtig, dass mehrere klinische Zentren an der Studie beteiligt sind, um zu verhindern, dass Ergebnisse so interpretiert werden, wie es günstig erscheint", erklärt Strauss. Die Auswertung der Ergebnisse liege in der Hand unabhängiger Experten. Ihnen werden zum Beispiel Fotos der Gesichtsmimik der Studienteilnehmer vorgelegt, die Hinweise auf Schädigungen der Gesichtsnerven geben. "Die Experten wissen dabei nicht, ob die Patienten die Prophylaxe erhalten haben oder zur Kontrollgruppe gehören", erklärt Scheller.
Falls die vorbeugende Medikamentengabe Vorteile gegenüber der bisherigen Behandlung hat, könnten weitere Studien zeigen, ob die Ergebnisse auch auf andere Operationen übertragbar sind. Die Wissenschaftler hoffen, ein Modell für eine prinzipielle Strategie zu finden, um Nerven zu schützen. "Denkbar wäre dieses Vorgehen bei allen Eingriffen, bei denen Nerven geschädigt werden können, etwa Hüft-Operationen, Operationen an der Wirbelsäule oder an der Schilddrüse", sagt Strauss. Diese Operationen kommen weitaus häufiger vor als die Entfernung von Akustikusneurinomen. An der Tumorart erkranken in Deutschland nur rund 800 Patienten pro Jahr.
Doch die Geschwülste eigneten sich zur Erforschung der neuen Therapie besonders gut. Das Krankheitsbild habe in der Neurochirurgie eine hohe Aufmerksamkeit und sei gut erforscht. "Die Tumore wachsen an einer sehr delikaten Stelle, dem Stammhirn", sagt Strauss. Zudem sei eine mögliche Schädigung der Gesichts- und Gehörnerven sehr genau zu messen. "Winzige Veränderungen sind sofort erkennbar", erklärt Strauss.
Neben der Frage, wie die Medikamentenkombination wirkt, soll auch geklärt werden, warum sie wirkt. "In unserer Arbeit gehen wir von klinischen Beobachtungen aus. Bei der Grundlagenforschung werden wir voraussichtlich mit dem Translationszentrum für Regenerative Medizin in Leipzig kooperieren", erklärt Scheller.