Kreuzchor Dresden Kreuzchor Dresden: Westflucht, Repressionen und ein Todesfall

Dresden - Der Kreuzchor und die Kreuzschule sind Dresdner Institutionen. Während der eine weltberühmt ist, steht die andere in deren Schatten, obwohl die Kreuzsänger heute auch 150 von rund 800 Kreuzschülern sind.
Zu den berühmten Alumnen der Schule zählten Richard Wagner im 19. und Peter Schreier im 20. Jahrhundert. Die strahlende Historie ist bereits dokumentiert worden.
Was bislang aber fehlte, war eine Geschichte der Kreuzschule für die Zeit zwischen 1945 und 1990. Die Journalistin Sonya Winterberg erzählt dieses Kapitel nun im Buch „Wie keine andere - Die Dresdner Kreuzschule in der DDR“.
Geschichte der Kreuzschule Dresden: Leiter Mauersberger nutzt Schutz der Auszeichnung
Wie jede andere exponierte Lehranstalt im Arbeiter- und Bauernstaat stand auch die Kreuzschule nach der Gründung der DDR im Fokus der Einheitspartei, die erst mit Argwohn verfolgte, was an dem christlichen Gymnasium gelehrt wurde, um es dann nach und nach ideologisch auf Linie zu bringen.
„Der Dresdner Kreuzschule wird seit Jahren nachgesagt, ein Sammelbecken gewisser kirchlicher, konservativer und reaktionärer Kreise zu sein“, hielten staatliche Vertreter im für die Zeit typischen propagandistisch-aggressiven Ton nach einer mehrwöchigen Inspektion der Schule 1958 fest.
Wie gefährlich, ja existenzbedrohend die Anfeindungen in den frühen DDR-Jahren waren, zeigte sich schon 1950. In besagtem Jahr erhielt Rudolf Mauersberger, der den Kreuzchor als künstlerischer Leiter zu Weltruhm führte, den Nationalpreis II. Klasse.
Den Schutz, den die staatliche Auszeichnung bot, nutzte Mauersberger für ein Memorandum, in dem er aufgrund der politischen Einflussnahme die „künstlerische Bankrotterklärung des Kreuzchores“ anmeldete.
Geschichte der Kreuzschule Dresden: Neuer Leiter politisch leichter lenkbar
Auch um derlei renitente Äußerungen künftig zu verhindern, wurde mit Gottfried Richter 1962 ein Pädagoge Rektor der Schule, der den Absolventen als beinharter Stalinist und ideologischer Scharfmacher in Erinnerung geblieben ist.
Den ersten Fahnenappell unter seiner Ägide widmete Richter, den die Stasi 1982 als IM verpflichten wird, dem Thema „Sabotage, Hetze und Unruhestiftung“.
Mauersbergers Tod bot die Chance, einen der SED-Bezirksleitung genehmeren Kantor zu installieren. Mit Martin Flämig wurde 1971 ein Musiker dessen Nachfolger, der politisch eingenordet war: „Aus Sicht der Genossen ein Glücksgriff, lässt er sich doch politisch viel leichter lenken“, notiert Winterberg, die Flämig auch attestiert, dass dieser in seinem Geltungsdrang dem Rektor in nichts nachstand: Während Richter ohne akademische Grundlage den Titel „Professor“ führte, habe Flämig bereits kurz nach seiner Ernennung begonnen, „für sich den Nationalpreis I. Klasse zu reklamieren“.
Geschichte der Kreuzschule Dresden: Auftritte außerhalb der DDR als Fluchtmöglichkeit
Richter und Flämig – beiden war auch eigen, dass sie die Flucht von Kruzianern auf Konzertreisen im Westen als persönliche Beleidigung empfanden. Nachdem der Chor zehn Jahre nur in der DDR auftreten durfte, gastierte das Ensemble ab 1979 wieder im westlichen Ausland.
In den Jahren bis zur Wende flüchteten Sänger bei fast jeder Reise in das NSW, das Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet. Selbst in Japan verließen 1988 drei Jungen den Chor und damit auch die DDR.
Den Jugendlichen, die fast umgehend beim Windsbacher Knabenchor aufgenommen wurden, attestierte Flämig fast milde „Treulosigkeit“. Die DDR-Nachrichtenagentur ADN hingegen giftete nach der Flucht der Chorsänger in Richtung Westen: „Abwerbung von Kruzianern durch BRD-Behörden aktiv unterstützt.“
Um noch zu retten, was nicht mehr zu retten war, eilte sogar der Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel (1925-2008) – der für die DDR-Regierung den Agentenaustausch, Gefangenenverkauf sowie Familienzusammenführungen organisierte – nach Bayern, um die Jugendlichen zur Rückkehr in die DDR zu bewegen. Vergebens.
Geschichte der Kreuzschule Dresden: Fall Ingolf Müller erschüttert Historie
Ein Drama ganz anderer Art erschütterte bereits 1983 die Kreuzschule. Es ist eines der dunkelsten Kapitel in der 800-jährigen Schulgeschichte und verbindet sich mit dem Schüler Ingolf Müller, der aus Gewissensgründen den Dienst an der Waffe verweigern wollte. Als das Rektorat davon erfuhr, statuierte es ein Exempel an dem selbstbewussten Schüler.
Nicht nur der junge Mann wurde von der Schulleitung drangsaliert, sondern auch dessen Eltern, denen man drohte, dass Ingolf die Kreuzschule verlassen müsse, wenn er bei seinem Vorsatz bliebe.
Anfang November 1983, als die staatliche Schikane gegen Müller ihren Höhepunkt erreichte, dann die Schreckensnachricht: Der Jugendliche starb, als ihn am 3. November in Dresden ein Zug erfasste.
Geschichte der Kreuzschule Dresden: Todesursache bleibt ungeklärt
Suizid oder Totschlag? Ein Tod, der bis heute Fragen aufwirft. Während die Transportpolizei den Eltern mitteilte, ihr Sohn habe sich vor einen Güterzug geworfen, will die Stasi wissen, dass es ein D-Zug gewesen sei, der freilich in einer anderen Richtung als der Güterzug unterwegs war.
Entgegen dem Hinweis, die sterblichen Überreste des Schülers seien in die Medizinische Akademie gekommen, wurde Ingolfs Leichnam in die Pathologie des MfS gebracht, wo jedoch keine Identifizierung durch Angehörige erfolgte. Auch der Lokführer ist nicht aktenkundig und im Zuge der Ermittlungen wohl auch nicht vernommen worden.
Müllers Eltern weigern sich jedoch zu glauben, dass ihr Sohn spontan Selbstmord begangen haben soll. „Dies ist ein erster Versuch einer sensiblen Aufarbeitung der Schulgeschichte zur Zeit der DDR“, heißt es am Ende des Buches. Es ist aber auch ein wichtiger Beitrag über Repression im DDR-Schulwesen. (mz)