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«Kinder ohne Lobby brauchen Zukunft» «Kinder ohne Lobby brauchen Zukunft»: Leberwurstbrot in der «Schnitte»

Von Kerstin Metze 07.05.2007, 17:26

Halle/MZ. - Das schmucke Hochhaus Ernst-Haeckel-Weg 11 in Halle-Neustadt lässt den unbedarften Besucher rätseln, wo sich hier ein Kinderhaus befinden soll. Als schließlich drei Steppkes schnurstracks eine Wohnungstür anpeilen, auf der ein kleines Schildchen "CVJM" klebt, weiß der Gast: Hier bist du richtig. Die Jungen klingeln und sind "zu Hause".

Zumindest für ein paar Stunden bietet ihnen das Kinderhaus "Schnitte" vom Christlichen Verein junger Menschen Geborgenheit und Verpflegung. Christliche Nächstenliebe wird hier zwar seitens der Mitarbeiter augenscheinlich praktiziert, bei den umsorgten Kinder spielt die Zugehörigkeit zu einer Kirche nach Angaben der Betreuer aber überhaupt keine Rolle.

Angebote von der "Tafel"

"Wir brauchen keine Werbung für unsere Einrichtung", sagt Friedhelm Fitz, der Geschäftsführer der "Schnitte". Seit vor zwei Jahren die CVJM-Betreuungsstätte für Kinder aus armen Familien eröffnet wurde, habe sich das kostenlose Angebot durch Mundpropaganda verbreitet wie ein Lauffeuer. Bis zu 50 Kinder von sechs bis 14 Jahren kommen täglich. Die ersten schon vor der Schule. "Sie holen sich da ein Frühstückspaket", sagt die Betreuerin Helgard Klose. "Ohne das würden sie hungrig losgehen."

Während die Kinder in der Schule sind, bereiten Helgard Klose und ihre fünf ABM-Mitstreiterinnen die Verpflegung vor. "Kochen dürfen wir wegen der Hygienevorschriften leider nicht", bedauert Friedhelm Fitz. In der Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung gibt es beispielsweise nur eine Toilette. So sondieren Helgard Klose und ihre Helferinnen das Angebot der "Halleschen Tafel", die Lebensmittel für bedürftige Einrichtungen sammelt. Schnitten werden geschmiert und frischer Salat zubereitet. Satt würden die Kinder schon. Und selbst die Bitte, abends ein Leberwurstbrot für das Geschwisterkind mitnehmen zu dürfen, werde erfüllt.

Fahrt ins Zeltlager

Alles, was es in der "Schnitte" an bescheidenen Angeboten gibt, ist gratis. "Wer zu uns kommt, ist arm", sagt Helgard Klose. Die Kinder kommen zumeist aus Familien, die von Arbeitslosengeld II leben. Das sei auch der Grund, warum die Kinder nicht an der Schulspeisung teilnehmen. "Wenn wir versuchen würden, einen Obolus zu nehmen, wäre unser Haus leer", sind sich Fitz und Klose sicher. "Ich bin gern hier und komme jeden Tag", sagt der siebenjährige Tobias. Mit Hakim (7) zeigt er stolz die Helme, die die Kinder für ihre Tour nach Billberge bei Stendal aus Zeitungen und Tapetenkleister gebastelt haben. "Ich bin glücklich, in diesem Jahr mit 20 Kindern ins Zeltlager fahren zu dürfen", sagt die Betreuerin. Himmelfahrt geht's los. Und auch bei der Vorbereitung auf die kleine Urlaubsfahrt ging es wie immer um die Suche nach Geldgebern. Die Billberge-Tour übernimmt laut Klose die Glaubensgemeinschaft der Baptisten, für andere Ausgaben lebe man "von der Hand in den Mund", feste Zuschüsse für irgendetwas gebe es nicht.

Zu Geburtstagsfeiern der Kinder beispielsweise wird improvisiert. "Süßes bekommen wir ab und an von der 'Tafel'", sagt Helgard Klose. Doch schon für kleine Präsente zum allseits beliebten Topfschlagen kramten die Mitarbeiter in eigenen Beständen oder klopften bei Firmen an. "Auch Bastelmaterial können wir immer gebrauchen." Gern spielen die Kinder mit Klopapier. "Hier, unsere Mumienfete war genial", ruft Tobias aus, als er sich die Erinnerungsfotos anguckt.

Der sehnlichste Wunsch der Kinder sei ein "Risiko"-Brettspiel, sagt Helgard Klose. Einmal in der Woche komme ihr Sohn mit dem beliebten Strategie-Spiel in die "Schnitte". "Was dann hier los ist, können Sie sich nicht vorstellen", sagt die Betreuerin, die selbst sechs Kinder hat und durch ihre mütterliche Art für die Arbeit mit Kindern geradezu prädestiniert scheint. Bedarf gebe es bei ihren Schützlingen auch an Bekleidung. Aber anzubieten habe man nichts.

Helgard Klose erzählt, welch vielschichtige Probleme ihr die Kinder anvertrauen, unter anderem im "Kummerkasten", wo jedes Kind seine Sorgen loswerden kann. Neulich hätten sie darüber gesprochen, dass man Vater und Mutter lieb haben sollte. "Da muss man schon schlucken, wenn einem ein Knirps die Frage stellt 'Warum muss ich Vati lieb haben, wenn er mich schlägt?' oder ein Mädchen sagt, dass sie Mutti nicht lieb haben kann, wenn sie den Kühlschrank abschließt und das Kind Hunger hat." Nicht alles Schlimme, was die Betreuer zu hören bekommen, können sie selbst klären oder für sich behalten. Die "Schnitte" gehört zu einem Netzwerk in Halle, arbeitet beispielsweise mit dem Jugendamt, dem Allgemeinen Sozialen Dienst und der Polizei zusammen.

Die kleine Wohnung im Zentrum von Halle-Neustadt platzt aus allen Nähten. An eine Kuschelecke etwa ist überhaupt nicht zu denken. Der Ansturm der Kinder ist fast nicht mehr zu verkraften. "Deshalb planen wir, noch in diesem Jahr ein zweites Kinderhaus in Neustadt zu eröffnen", sagt "Schnitte"-Chef Friedhelm Fitz. Insgesamt zehn ABM-Kräfte habe die Arbeitsagentur genehmigt. Damit komme der CVJM bei der Kinderbetreuung zwei Mal in Neustadt und in der Einrichtung "Delphin" in der halleschen Innenstadt über die Runden.

Kontakt zum CVJM über

Telefon 0345 / 294 15 20