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Katastrophe von Tschernobyl Katastrophe von Tschernobyl: GAU ohne Ende oder alles nur halb so schlimm?

26.04.2006, 17:11

Gomel/Moskau/dpa. - Agejew regt sich vor allem über die Vertuschungsversuche der damaligen Sowjetmacht auf. «Hätte man die Menschen rechtzeitig davor gewarnt, ins Freie zu gehen, so wäre die Krankheitsrate nach Tschernobyl nicht so dramatisch angestiegen», betont Agejew.

Auch zwei Jahrzehnte nach dem Super-GAU ist die Wissenschaft gespalten. Taugt Tschernobyl weiterhin als abschreckendes Argument gegen die Atomkraft oder war alles nur halb so schlimm? Für Wirbel sorgt eine im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation WHO im vergangenen September veröffentlichte Großstudie zu den Folgen der Reaktorkatastrophe.

Die Wissenschaftler ziehen das Fazit, dass - grob vereinfacht - die Folgeschäden von Tschernobyl viel geringer sind als ursprünglich angenommen. Abgesehen von den zu 99 Prozent nicht lebensgefährlichen Krebserkrankungen an der Schilddrüse seien keine grundsätzlich negativen Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen festzustellen. Die Armut sei eine weit größere Bedrohung für die Menschen in den betroffenen Regionen als die Strahlung, heißt es in der Studie.

Der Protest der Atomkraftgegner fiel entsprechend deutlich aus. Von einer «gezielten Täuschung der Weltöffentlichkeit» spricht die Vereinigung «Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung». Am deutlichsten werden die gegensätzlichen Positionen bei der Opferzahl durch Tschernobyl: Die WHO-Studie spricht von «weniger als 50 Opfern», bei denen radioaktive Strahlung zum Tode führte. In der Zukunft sei mit bis zu 4000 Toten zu rechnen. Atomgegner sprechen dagegen von zehntausenden Toten.

Bedienungsfehler und Konstruktionsmängel lösten am 26. April 1986 die größte Katastrophe in der zivilen Nutzung der Kernenergie aus. Eine gewaltige Explosion zerriss den Reaktor und die ihn umgebende Schutzhülle. Große Mengen radioaktiver Materie wurden durch die extreme Hitze in den Himmel geschleudert und verteilten sich auf die Region nordöstlich von Tschernobyl.

Messstationen in Nordeuropa hatten längst Strahlenalarm gegeben, als die ahnungslosen Sowjetbürger am 1. Mai noch zu Kundgebungen marschierten und der Nachwuchs in den Sandkästen buddelte. Viel zu spät kam der Evakuierungsbefehl. Allein in Weißrussland mussten 480 Siedlungen aufgegeben werden. 137 000 Menschen wurden umgesiedelt.

Schreckensbilder vom explodierten Kernkraftwerk, von verstrahlten Einsatzhelfern und Menschen auf der Flucht vor der Strahlung gingen um die Welt. Selbst in der 1000 Kilometer entfernten Bundesrepublik brach Panik aus. Viele Menschen haben Angst, Milch zu trinken oder Pilze zu essen. In einem ersten Fazit 1996 sprechen Nuklearmediziner allerdings von überzogenen Reaktionen in Deutschland.

Zwischen 500 000 und einer Million «Liquidatoren» waren in den Tagen und Wochen nach der Explosion im Einsatz, die meisten von ihnen junge Soldaten. In Minuten-Einsätzen bauten die oftmals ahnungslosen Männer eine provisorische Schutzhülle (Sarkophag) um den Reaktorkrater oder entsorgten verstrahltes Material. Viele dieser Helfer sind bereits gestorben oder aber arbeitsunfähig. Während die Atomkraftgegner dies als endgültigen Beweis für die radioaktive Gefahr werten, verweist die Gegenseite auf die Zeitspanne von 20 Jahren und die auch in unverstrahlten Nachbargebieten drastisch gesunkene Lebenserwartung.

In der Region Gomel muss man 20 Jahre nach Tschernobyl genau hinschauen, um noch Spuren der Katastrophe zu entdecken. Die Menschen haben gelernt, mit den Folgen zu leben. «Wir müssen die Produktion von verstrahlten Lebensmitteln wirksam stoppen, um das Erkrankungsrisiko für den Menschen zu verringern», sagt der Strahlenexperte Agejew. Für Weißrussland ist das trotz aller Hilfsprogramme aus dem In- und Ausland ein schwieriges Unterfangen. Bis heute sind im Land 265 000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche verstrahlt.

In den drei am stärksten betroffenen Ländern Weißrussland, Russland und Ukraine herrscht heute die Tendenz vor, die Folgeschäden durch die Verstrahlung als eher gering einzustufen. «Die Sterblichkeitsrate der Liquidatoren liegt nicht höher als bei der männlichen Bevölkerung in Russland insgesamt», verkündeten Wissenschaftler auf einer Konferenz Anfang April in Moskau. Russland und die Ukraine bauen weiterhin auf Atomkraft. Da sind zu viele Zweifel nicht angebracht. Und in Weißrussland setzt die autoritäre Führung alles daran, die ohnehin schon fatalistische Gesellschaft durch neue Schreckensmeldungen nicht noch weiter zu traumatisieren.

Der weißrussische Wissenschaftler Agejew sieht in den Folgen von Tschernobyl eine Herausforderung für Generationen. Ebenso lang werde sein Land auf Unterstützung aus dem Westen angewiesen sein. Zumindest das Interesse von Nuklearforschern sei ungebrochen. «Jeder spürt doch in seinem Innern, dass sich eine Katastrophe wie Tschernobyl auch anderswo ereignen kann», betont Agejew, der selbst keine Alternative zur Atomenergie sieht.