Hintergrund Hintergrund: Übergesetzlicher Notstand löst Abschussproblematik nicht
Berlin/dpa. - «Deshalb müsste ich im Notfall vom Recht des übergesetzlichen Notstands Gebrauch machen: Wenn es kein anderes Mittel gibt, um unsere Bürger zu schützen», sagt der Minister. «Das ist nach meinem Verständnis eine wichtige Staatsaufgabe.»
Nach Einschätzung von Rechtsexperten ist es sicher unbefriedigend, dass sich die Regierungskoalition immer noch nicht darauf verständigt hat, ein neues Luftsicherheitsgesetz zu schaffen, das einen solchen Fall abschließend regeln würde. Darauf hat auch Jung hingewiesen. Rechtlich problematisch sei es aber auch, wenn der Minister in dieser Situation annehme, er könne sich auf die Rechtsfigur des übergesetzlichen Notstands stützen. Der Minister agiere wohl eher in einem rechtsfreien Raum. Das Gleiche gelte für den Bundeswehrpiloten, der auf den Abschussknopf drücken müsste. «Ganz, ganz heikel ist dieser Fall», sagt der Berliner Strafrechtsprofessor Klaus Geppert.
Für den Konflikt der Lebensrettung um den Preis der Lebensvernichtung präsentiert das Strafrecht mehrere Antworten. Zu denken ist etwa an Notwehr, der im Extremfall die Tötung eines Angreifers zulässt, um fremdes Leben zu schützen. Nur: Die Passagiere sind keine Angreifer. Ihr Tod könnte nie durch den Notwehrparagrafen 32 des Strafgesetzbuchs gerechtfertigt sein. Dieser könnte nur den Tod der Entführer und Terroristen rechtfertigen. Ein Abschuss wäre also nur zulässig, wenn ausschließlich Terroristen an Bord wären.
Bliebe der gesetzlich normierte «rechtfertigende Notstand», der im Paragrafen 34 Strafgesetzbuch geregelt ist. Diese Norm geht von einer Abwägung aus. So kann ein Jäger das Tier eines Tierhalters erschießen, wenn dieses Menschen anzufallen droht. Der Verlust am Eigentum Tier wiegt nicht so schwer wie die Gefahr für die Menschen.
Das Szenario Luftkaperung ist aber ein anderes: Beim Abschuss eines Passagierflugzeugs würden Menschenleben geopfert, um am Boden möglicherweise noch mehr Menschen zu retten. Genau in diesem Fall greift Paragraf 34 Strafgesetzbuch nach einhelliger Auffassung aber nicht - so steht es auch im Standardkommentar von Tröndle/Fischer. Der «rechtfertigende Notstand» verlangt ein überwiegendes Interesse des geretteten Rechtsguts im Vergleich zu dem, das vernichtet wird. «Ein Leben wiegt aber genauso viel wie andere Leben», sagt Geppert.
Es bliebe dann nur der von Jung zitierte übergesetzliche Notstand. Doch der ist im Strafgesetzbuch nicht geregelt. In den Lehrbüchern wird diese Möglichkeit zwar noch erwähnt. Auch zu Zeiten des deutschen Herbstes 1977 rechtfertigte man damit die Kontaktsperre zwischen inhaftierten Terrorverdächtigen und ihren Anwälten.
Geppert meint jedoch: Eine erweiternde Auslegung von Paragraf 34 Strafgesetzbuch im Sinne eines übergesetzlichen Notstands wäre bei der Entführung einer Passagiermaschine unzulässig. Er verweist auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2006 zum alten rot-grünen Luftsicherheitsgesetz. Damals hatte das Gericht eben diese Abwägung Leben gegen Leben untersagt. Deshalb könne es hier keine erweiternde Auslegung von Paragraf 34 Strafgesetzbuch geben.
«Der Schutz der Menschenwürde ist strikt und einer Einschränkung nicht zugänglich», hatte Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier bei der Urteilsverkündung am 15. Februar 2006 gesagt. Durch den Abschuss eines gekaperten Passagierjets würden Unschuldige zum bloßen Objekt einer staatlichen Rettungsaktion gemacht. «Indem über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt wird, wird den als Opfern selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt. Sie werden verdinglicht und zugleich entrechtlicht», sagte Papier.
Diskutiert wurde über den übergesetzlichen Notstand auch bei der Entführung des Frankfurter Bankierssohns Jakob von Metzler 2002. Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner drohte dem Kidnapper Schmerzen an, wenn dieser nicht den Aufenthaltsort seines Opfers nenne. Vor Gericht sagte Daschner später, er habe den Jungen retten wollen. Sein Anwalt machte einen übergesetzlichen Notstand geltend. Das Gericht sah dies anders: Das Vorgehen des Polizeichefs sei durch kein Gesetz gedeckt und nicht zu rechtfertigen gewesen. Daschner habe gegen die Menschenrechtskonvention und gegen das Grundgesetz verstoßen.