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Halle Halle: Eingesperrt vom Schnee

Von Johannes Klemt 09.03.2010, 14:00

Halle/MZ. - Für mz-web.de war Johannes Klemt mit einer jungen Frau unterwegs, die auf den Rollstuhl angewiesen ist, und beschreibt den Winter aus ihrer Sicht.

Die Luft ist voller Eiskristalle, diesig. Der Atem schneidet im Hals. Es ist Ende Januar. Auf Straßen und Gehwegen liegt Schnee – die Stadt trägt ein weißes Winterkleid. Kathleen Mennicke ist auf einem schmalen Fußweg unterwegs. Als ihr andere Menschen entgegen kommen, laufen diese auf der Fahrbahn weiter. Kathleen kann das nicht. Die 18-Jährige ist seit fünf Jahren an den Rollstuhl gefesselt, weil sich ihre Muskeln langsam zurückbilden. Die lebensmutige Frau leidet seit ihrer Geburt an spinaler Muskelatrophie. Trotzdem wirkt sie selbstbewusst und reif, keine Spur von Selbstmitleid. Kathleen ist Praktikantin beim Offenen Kanal in Wettin. Zukünftig will sie dort Nachrichtenfilme produzieren.

Einmal durch die Stadt

In eine warme Jacke gehüllt und zwei Paar Socken an den Füßen, so fährt die junge Frau vom Bahnhof aus ins Zentrum der Stadt. Der Elektromotor von Kathleens Rollstuhl summt beständig vor sich hin. Jede Unebenheit wird hörbar. Es klappert laut, als Kathleen über das Kopfsteinpflaster vom Riebeckplatz fährt. Rechts und links vom Rollstuhl liegt Schnee. Konzentriert beobachtet die angehende Mediengestalterin den Weg. „Ich schaue vor allem nach Glas“, sagt sie. „Das Schlimmste, was mir passieren kann, wäre ein platter Reifen.“ Dann müsste sie eine Service-Nummer anrufen. „Die kämen zwar her und würden mich abholen, aber das dauert“, fügt Kathleen hinzu. Vor einigen Tagen war sie schon einmal auf einem Fußweg liegengeblieben, weil die Rollstuhlräder auf dem spiegelglatten Eis keinen Halt mehr fanden. „Eine halbe Stunde lang kam keiner“, berichtet Kathleen. Schließlich hatte ihr eine junge Frau Sand unter die Räder geschüttet. „Ich habe furchtbar gefroren. Aber was soll ich machen, wenn keiner kommt?“ Kathleens Stimme klingt bitter.

Winterdienst ist Pflicht

Wie Halles Verkehrsnetz von Schnee und Eis zu befreien ist, wird in der Straßenreinigungs-Satzung vom 21. Juli 2007 vorgeschrieben. Diese regelt Umfang und Häufigkeit der Räumung auf Fahrbahnen, Fuß- und Radwegen. Letztere sind in der Regel auf einer Breite von 150 Zentimetern frei zu halten. Darüber hinaus schreibt die Satzung vor, ob städtische Räumdienste oder Anlieger für den Winterdienst verantwortlich sind. Tatsächlich zeichnet das Tiefbauamt für die Räumung von knapp 18 Fußwegkilometern verantwortlich. Als Kathleen in die Wilhelm-Kültz-Straße einfährt, bekommt sie Schwierigkeiten. Ein Panzer aus festgetretenem Schnee überzieht den gesamten Fußweg. Der Motor von Kathleens Rollstuhl heult jedes Mal laut auf, wenn die Antriebs-Räder durchdrehen. Wieder und wieder bleibt das 150-Kilo-Gefährt zwischen gefrorenen Fußspuren und Beulen aus Eis stecken. Das unermüdliche Klappern der beweglichen Teile hallt von den Häuserwänden wider. Laut Satzung sind die Besitzer dieser Gebäude für die Räumung dieses Fußwegs verantwortlich. Mit grimmiger Miene erkämpft sich die 18-Jährige jeden Meter Strecke auf der zentimeterdicken Buckelpiste. Das bizarre Schauspiel erinnert an eine rumpelnde Geländefahrt – mit ihr die Angst, Kathleen könne aus dem Rollstuhl fallen. Mit der Linken krallt sie sich an die Armlehne des Rollstuhls. Den Steuerknüppel hält sie fest in der Rechten. „Hier kann ich nur noch auf der Straße weiter fahren“, erklärt die gebürtige Merseburgerin wütend. Die Wilhelm-Kültz-Straße ist wenig befahren. Auf stärker frequentierten Straßen wäre dieses Manöver hoch gefährlich.

Planung ist alles

„In der Regel besitzen Rollstuhlfahrer sehr gute Ortskenntnisse und wissen genau, wo sie durchkommen und wo nicht“, erklärt Toralf Fischer. Der Behindertenbeauftragte der Stadt beschreibt die Räumsituation im Januar als „absolut katastrophal“. Große Teile der Stadt seien für körperlich behinderte Menschen „ohne fremde Hilfe nicht passierbar.“ Dabei ist Halle auf dem Gebiet der Barrierefreiheit relativ weit. Laut Bauvorschrift gelten alle Übergänge als barrierefrei, die keine Kanten über drei Zentimeter Höhe aufweisen. Drei Viertel aller Straßenbahnhaltestellen in Halle erfüllen diese Norm, ein Viertel der Bushaltestellen ebenfalls.

Auf die Frage, an welchen Orten sie generell am schlechtesten vorankomme, antwortet Kathleen: „Das kommt ganz darauf an, ob der Weg geräumt ist oder nicht.“ Das Steintor sei am schlimmsten. Der Verkehrsknoten stellt ein ganzjähriges Risiko für alle Verkehrsteilnehmer dar. Dort muss Kathleen jetzt hin. Als sie in die Straßenbahn steigt, wird sie von anderen Fahrgästen angestarrt. Es wird seltsam still in der Tram. „Das ist meistens so“, berichtet Kathleen. „Wenn es mir zu viel wird, spreche ich die Leute an.“ Die größten Probleme hat die angehende Mediengestalterin mit dem Schnee, den die Räumdienste von der Fahrbahn an den Straßenrand geschoben haben. Der blockiere flächendeckend abgesenkte Bordsteinkanten und behindertengerechte Haltestellen. „Der städtische Winterdienst ist seinen Pflichten satzungsgemäß und in vollem Umfang nachgekommen“, erklärt Steffen Drenkelfuß, Pressesprecher der Stadt. Laut Satzung gehörten die meisten Nebenstraßen aber nicht zu den räumpflichtigen 235 Kilometern von Halles Straßennetz. Dadurch saßen im vergangenen Winter viele gehbehinderte Menschen wie auch Rollstuhlfahrer in ihren Wohnungen fest, eingesperrt vom Schnee.

„Die Betroffenen kamen zum Teil wochenlang nicht in ihre Einrichtungen, weil die Fahrdienste nicht in die Nebenstraßen einfahren konnten“, mahnt Behindertenbeauftragter Fischer. Besonders schlimm sei das für schulpflichtige Kinder oder Berufstätige mit Behinderung. Kathleen war ebenfalls in dieser Situation. „Ich habe mich gewissermaßen von der Gesellschaft ausgeschlossen gefühlt“, beschreibt die junge Frau ihre Situation. Zwei Wochen lang konnte Kathleen nicht zu ihrer Arbeitsstelle nach Wettin fahren.

Schneeräumung – Aufgabe der Anlieger?

Stadtsprecher Steffen Drenkelfuß erklärt, dass die Anlieger in der Pflicht seien, ihre Gehwege und Zufahrten eisfrei zu halten. „Theoretisch dürfte es das Problem gar nicht geben“, meint er. Kommen die Hausbesitzer ihren Räumpflichten nicht satzungsgemäß nach, stellt dies eine Ordnungswidrigkeit dar. Für die Kontrolle der Anliegerpflichten ist das Ordnungsamt zuständig. Dieses kann Bußgelder von bis zu 2 500 Euro gegen säumige Hauseigentümer verhängen - „und das wird auch getan“, berichtet Drenkelfuß weiter.

Kathleen erklärt, dass bei der Straßenräumung zukünftig mehr auf die Bedürfnisse von Behinderten geachtet werden müsse.Sie wünscht sich stärkere Kontrollen und sieht die Stadt gefordert, geltende Bestimmungen durchzusetzen. Rollstuhlfahrer müssen auf viele Dinge achten, die Gehende gar nicht wahrnehmen. Kathleen strahlt, als sie den Marktplatz erreicht - vielleicht, weil die Fläche gut geräumt ist. Kathleen ist hart geworden - hart im Nehmen und stark im Aushalten.