"Fürchterliches Getöse" "Fürchterliches Getöse" : Riesiger Krater: Erdfall von Schmalkalden bleibt unvergessen

Schmalkalden - Die Kiesdecke vor ihrem Haus erinnert Ute Schütze täglich aufs Neue an den Moment vor zehn Jahren, an dem in Schmalkalden die Erde aufriss. Ohne Vorwarnung bildete sich am frühen Morgen des 1. November 2010 in einem Wohngebiet mit Einfamilien- und Reihenhäusern ein Krater, der rasch auf rund 30 Meter Durchmesser anwuchs. Er verschluckte ein Auto, Garagenteile und ein Stück Garten.
Was die 20 000-Einwohner-Stadt in Südthüringen an jenem Tag erlebte, war ein Erdfall - ein Naturphänomen, ausgelöst durch einen unterirdischen Hohlraum, wie Fachleute des heutigen Thüringer Landesamtes für Umwelt, Bergbau und Naturschutz (TLUBN) feststellten. Geologen gilt der Erdfall von Schmalkalden als einer der spektakulärsten überhaupt in Deutschland.
„Wir haben ein Riesenglück gehabt“
Ute Schütze sah damals hilflos zu, als Teile auch ihres Grundstücks in dem 17 Meter tiefen Krater verschwanden. „Das war ein fürchterliches Getöse.“ An den Kraterrand angrenzende Häuser mussten geräumt werden, wie Bürgermeister Thomas Kaminski (parteilos) berichtet.
Im Concordiasee bei Aschersleben, dem größten künstlichen See im Harzvorland, kam es am 18. Juli 2009 ebenfalls zu einer durch einen Erdrutsch verursachten Katastrophe: Gegen 4.40 Uhr stürzte im Bereich des Ortes Nachterstedt ein etwa 350 mal 150 Meter breiter Landstreifen und damit etwa 4,5 Millionen Kubikmeter einer alten Tagebau-Halde in den entstehenden See. Dabei wurden ein Doppelhaus, ein Teil eines weiteren Doppelhauses sowie ein Stück Straße mit Aussichtspunkt und Info-Kiosk in die Tiefe gerissen. Drei Menschen starben dabei, 41 wurden obdachlos. Die Flutwelle drückte auf der gegenüberliegenden Seeseite ein Ausflugsschiff aufs Ufer. Erst 2019 wurden Teil des Sees für den Tourismus freigegeben. (mz/sw)
„Wir haben aber ein Riesenglück gehabt.“ Denn als sich der Erdfall etwa 3 Uhr morgens ereignete, war kein Mensch auf der Straße. So sei niemand körperlich zu Schaden gekommen. „Wer weiß, was passiert wäre, wenn sich der Erdfall Stunden später im Berufsverkehr ereignet hätte“, sagt der 49-Jährige, der seit 2006 Stadtoberhaupt von Schmalkalden ist.
Anwohner mussten mehrere Monate in Ausweichquartiere
Schon kurz nach dem Desaster begann die Verfüllung des Kraters. Eineinhalb Wochen lang brachten Lastwagen Tag und Nacht Kies, der von einem Spezialbagger in das Erdloch auf der Straße gekippt wird. „Das musste schnell gehen, denn die Häuser oberhalb des Kraters drohten zu rutschen“, erzählt Kaminski. In Sicherheit gebrachte Anwohner verbrachten teils mehrere Monate in Ausweichquartieren.
Die damalige Landesregierung beschloss Soforthilfen, vom Erdfall betroffene Hausbesitzer erhielten jeweils 10 000 Euro. Evangelische Kirche und Diakonie spendeten Geld.
Immer noch leichte Senkung in Schmalkalden
Heute herrscht an der einstigen Kraterstelle noch immer keine Ruhe. „Es ist immer noch eine leichte Senkung im Erdfallumfeld messbar“, sagt Sven Schmidt, Geologe beim TLUBN. Die Fachleute der Behörde haben längst ein Beobachtungs- und Frühwarnsystem am verfüllten Krater installiert. Bewegungsmesser erfassen millimeterkleine Erdbewegungen, Messgeräte lösen bei Absenkungen Alarm aus, unterirdische Spezialmikrofone sollen Erschütterungswellen und Geräusche aufnehmen. Das Messsystem sei so empfindlich, dass es schon einmal ausgelöst habe, als ein Tieflader abgeladen wurde, erinnert sich Bürgermeister Kaminski. „Das zeigt letztlich, dass es funktioniert.“
Auch Ute Schütze merkt, dass sich der Untergrund noch immer bewegt. Sie erkenne Verschiebungen am Boden ihres Schuppens und am Hoftor, sagt sie. Der Bau einer Straße über den Krater, wie von einigen des Umwegs in die Innenstadt überdrüssigen Anwohnern gewünscht, sei wegen der Bewegungen nicht möglich, sagt Kaminski. „Zu gefährlich.“
Zwischen zehn und 30 Erdfälle in Thüringen pro Jahr
Thüringen ist das nach Angaben der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe das Bundesland mit dem höchsten Risiko für natürliche Erdfälle. Auf etwa 60 Prozent der Fläche müsse damit gerechnet werden, sagt der für Gefährdungsanalysen zuständige Bereichsleiter Thomas Lege. In Baden-Württemberg gelte das für 40 Prozent der Landesfläche, in Ländern wie Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern hingegen ist das Risiko gleich Null.
Als Risikogebiete gelten etwa Ablagerungen von Salz- und Gipskarstgesteinen. Ausspülungen etwa durch Grundwasser können dort - wie in Schmalkalden - zu Hohlräumen führen, wie Geologe Schmidt erläutert. Zwischen 10 und 30 Erdfälle werden in Thüringen nach seinen Angaben pro Jahr gemeldet. Sie ereigneten sich zum Beispiel auf Feldern oder im Wald und seien meist nicht so gravierend wie jener in Schmalkalden oder ein weiterer in Nordhausen. Dort brach im Februar 2016 auf einem Betriebshof ein fast ebenso großer Krater wie in Schmalkalden auf. Eine Vorhersage sei schwierig. „Man kann nur beobachten.“
Wegziehen? Keine Option!
Schlagzeilen machte in Thüringen auch ein Erdfall 2002 in Tiefenort (Bad Salzungen) im Wartburgkreis. Dort hatte sich im Hof und Garten eines Wohnhauses ein großes Loch aufgetan. In den Folgejahren kam es zu mehreren Nachbrüchen. Mehrere Familien verloren ihr Zuhause. Erst am Montag hatte Thüringens Sozialministerin Heike Werner (Linke) angekündigt, den Gründer des dortigen Erdfallhilfevereins für sein Engagement für die Familien mit der „Thüringer Rose“ auszeichnen zu wollen. Mit der Medaille werden jährlich Menschen geehrt, die sich in überdurchschnittlicher Weise bei ehrenamtlicher und karitativer Arbeit sozial engagieren.
Trotz der unruhigen Erde unter ihren Füßen - für Ute Schütze war Wegziehen nie eine Option. Sie habe nach dem Erdfall viel Geld in Befestigungen und die Erfüllung von Bauauflagen investiert, um wieder zurückkehren zu können. Angst vor einem neuen Erdfall hat sie nicht. „Ich vertraue den Befestigungen, auch wenn es nachts mal knackt.“ (dpa)