Fragen und Antworten Fragen und Antworten: Schwenk in Richtung Realität
HALLE/MZ. - Was bedeutet die Tarifeinheit überhaupt?
Bisher hat das Gericht auf den Grundsatz der Tarifeinheit gepocht: In einem Betrieb soll nur ein Tarifvertrag gelten. Wenn sich mehrere Tarifverträge überschneiden, dann gilt der speziellere. "Das bedeutet zum Beispiel, dass der Firmentarifvertrag immer den Flächentarifvertrag schlägt", erläutert der frühere Gerichts-Präsident Thomas Dieterich. Christliche Gewerkschaften können also mit einem Unternehmen einen billigen Haustarif abschließen und so den Flächentarif unterlaufen.
Welche Folgen hat die bisherige Rechtsprechung für Spartengewerkschaften wie den Marburger Bund?
Bislang hatte das Bundesarbeitsgericht (BAG) noch nie über einen Konflikt zwischen Sparten- und Branchengewerkschaften entschieden. Es hat aber Grundsätze formuliert. Nehmen wir das Beispiel Krankenhäuser: Kliniken haben mit der Gewerkschaft Verdi Tarifverträge geschlossen, die für alle Beschäftigten gelten. Gleichzeitig haben sie mit dem Marburger Bund Vereinbarung nur für Mediziner geschlossen. Nach der bisherigen BAG-Regel müsste eigentlich für Ärzte der Verdi-Tarif gelten, erläutert der Arbeitsrechtler Stefan Greiner von der Uni Jena. Denn die Richter haben bisher erklärt: Zum Zuge kommt der Vertrag, der den Erfordernissen des gesamten Betriebs am besten gerecht wird. Faktisch werden Ärzte jedoch nach den Tarifen des Marburger Bund bezahlt. "Die Rechtsprechung ist von der Realität überholt worden", sagt Greiner.
Wie will das Bundesarbeitsgericht künftig urteilen?
Wenn ein Unternehmen oder ein Arbeitgeberverband mit zwei Gewerkschaften Tarifverträge schließt, gelten künftig beide nebeneinander, so Dieterich. Das bedeutet: Mitglieder des Marburger Bundes haben Anspruch auf den Tarif ihrer Organisation, Verdi-Mitglieder auf den Verdi-Vertrag. Der Vertrag des Marburger Bundes kann nicht mehr verdrängt werden mit der Begründung, die Tarifeinheit müsse gewahrt werden. Um den Betriebsfrieden zu wahren, dürften Kliniken indes weiter alle Beschäftigten gleich bezahlen.
Was bedeutet das Urteil für Arbeitnehmer, die in keiner Gewerkschaft sind?
Das hängt von jedem einzelnen Arbeitsvertrag ab. In der Regel ist die Anlehnung an einen Tarifvertrag vereinbart, so Armin Höland, Arbeitsrechtler an der Uni Halle. Gelten in einem Betrieb mehrere Vereinbarungen nebeneinander, ist zu entscheiden, welcher Tarif für den nicht organisierten Arbeitnehmer anzuwenden ist. Das erschwere die Gestaltung von Arbeitsverträgen. Zugleich steige der Druck auf die Arbeitnehmer, sich einer Gewerkschaft anzuschließen und so Klarheit zu schaffen. Höland: "Es gibt mehr Wettbewerb zwischen den Gewerkschaften."