Flüchtlinge Flüchtlinge: Bei freiwilligen Helfern wächst die Verzweiflung über die Zustände

Augustusburg - Auf einmal sind sie da gewesen. „Hätten wir nicht das Licht brennen sehen, hätten wir nicht mitbekommen, dass da jemand ist“, sagt Annette Schlauf.
„Jemand“, das sind vier Menschen, eine Familie aus dem Libanon, Vater Ali, Mutter Leila, eine Siebenjährige, eine Neunjährige, einquartiert in einer Wohnung, die der Landkreis schon angemietet hatte, als damals 2015 der plötzliche Zustrom vom Flüchtling auch in Mittelsachsen alle Gewissheiten kippeln ließ.
Das ist jetzt zwei, fast drei Jahre her. Der Fall der Familie Ali zeigt exemplarisch, dass manches besser geworden ist. Aber gar nichts gut.
Augustusburg: Hallenser Dirk Neubauer ist Bürgermeister
Augustusburg im Januar, ein 4.500-Einwohner-Städtchen zwischen Chemnitz und Freiberg. Ein prächtiges Schloss gibt es hier, einen hübschen Marktplatz, alte Häuser, Skihänge und einen weltweiten Ruf als Mekka von Motorradfans.
Der Hallenser Dirk Neubauer ist hier seit vier Jahren Bürgermeister, ein auffällig-umtriebiger Typ wie damals schon, als er noch als Journalist an der Saale lebte. Neubauer schrieb für die MZ, stampfte deren ersten Internetauftritt aus dem Boden, gründete eine Bürgerbewegung und eine Internetfirma.
Die entführte ihn dann nach Chemnitz, keine so schöne Stadt, sagt der 46-Jährige heute noch. Neubauer ging aufs Land, Augustusburg war ruhig und schön, so schön, dass er hier ein Café eröffnete und begann, eigene Kaffeebohnen zu rösten.
Augustusburg: Angekündigte Flüchtlinge kommen nicht
Aber, so fand er bald, seine neue Heimatstadt wurde schlecht verwaltet. Der Internet-Unternehmer, gewohnt, besser zu machen, was er für schlecht hält, kandidierte bei der Bürgermeisterwahl, gewann und versucht seitdem, gegen Lähmung und Langeweile, Haben-wir-aber-schon-immer-so-gemacht und Nur-bloß-nichts-Neues-versuchen anzuregieren.
Das gelingt mal gut und mal besser, mal auch gar nicht. Wie letzte Woche, als der Landkreis ihm die Ankunft von Flüchtlingen ankündigte.
Nichts Ungewöhnliches und erst recht nichts, was Neubauer und den großen ehrenamtlichen Unterstützerkreis, der sich seit 2015 gebildet hat, noch in Aufregung versetzen könnte. Es passierte dann auch nichts, wie schon so oft, beschreibt der Bürgermeister. „Es kam nicht mal die zweite Mail mit den Details zur Ankunft.“
Dirk Neubauer: „Die Menschen werden abgeladen“
Nur die Familie war ungeachtet dessen schon eingetroffen, von Mitarbeitern des Landkreises zu einer vom Landkreis gemieteten Wohnung gebracht.
„Dort bekommen sie eine kurze Erklärung, so funktioniert die Waschmaschine, so wird der Müll getrennt, fertig“, sagt Annette Schlauf, die von Anfang zum Unterstützerkreis gehört und wie dessen übrige Mitglieder nicht mit ihrem richtigen Namen zitiert werden möchte.
Der Rest ist Selbstlauf. „Wären wir nicht da“, schüttelt Unterstützer Gerald Müller den Kopf, „wüssten Leute wie diese Familie nicht, wo sie einkaufen gehen sollen, wo die Schule für die Kinder ist und welche Anträge sie ausfüllen müssen, um am Leben teilnehmen zu können.“
Die libanesische Familie erlebe damit keine Premiere, nein, sagt Dirk Neubauer, das laufe seit 2015 so. „Die Menschen werden abgeladen, als wolle man ihnen signalisieren, dass sie unerwünscht sind.“
Flüchtlinge seit 2015 in Augustusburg
Ein Gefühl, das zumindest Augustusburg seinen neuen Bürgern nie gegeben hat. Ganz am Anfang, erinnert sich der Bürgermeister, gab es jede Menge Ängste, Furcht und Bedenken im Ort. Vor 500 Leuten hat Neubauer damals in der Sporthalle gesprochen, selbst unsicher, „was da auf uns zukommt“.
Aber klar sei für ihn gewesen, dass da „Menschen um unsere Hilfe bitten und wir ihnen helfen werden“. In der Turnhalle haben ein paar Leute gemeckert und ihn deshalb beschimpft. „Bis dann andere aufgestanden sind und dagegengehalten haben.“
Drohanrufe gegen Bürgermeister von Augustusburg
Dirk Neubauer, der angesichts von nächtlichen Drohanrufen schon überlegt hatte, seinen Job an den Nagel zu hängen, war abends, als er nach Hause kam, „unglaublich stolz auf meine Augustusburger.“ Er beschloss zu bleiben.
„Die Rückendeckung hat Mut gemacht.“ Ein Problem bestand von Anfang an darin, dass die Gemeinde keine Zuständigkeit für die Neuankömmlinge hat. „Sie leben bei uns, aber wir haben keine Stelle für jemanden, der sich kümmern kann“, beschreibt Neubauer. Gemeinsam mit Bürgermeisterkollegen aus Nachbargemeinden hat er versucht, an dieser Unwucht etwas zu ändern. „Wir wollten zusammenlegen und wenigstens einen Mitarbeiter einstellen - aber da führte kein Weg hin.“
Freiwillige helfen bei Integration von Flüchtlingen
Seitdem muss der Unterstützerkreis aus Freiwilligen wie Annette Schlauf, Gerald Müller und Annelies Heinze die ganze Last des „Wir schaffen das“ tragen. „Wenn die Familien neu sind, stehen sie mit ihrer Einkaufstüte voller Habseligkeiten hier genauso ratlos da wie wir, wenn mich jemand in Beirut aussetzen würde“, beschreibt Annelies Heinze.
Offiziell heißt es beim Landkreis, die Asylbewerber erhielten „eine umfassende Information über wichtige Dinge, die im Zusammenhang mit der Wohnungsnutzung stehen“ und Sozialarbeiter übernähmen „in der Regel die Anmeldungen der Kinder in den Kitas und Schulen“ und sie stünden auch „unterstützend beim Ausfüllen notwendiger Formulare und Anträge oder bei der Beschaffung von Bedarfsgegenständen“ zur Seite.
Flüchtlingshelfer beklagen fehlende Unterstützung
Der empfohlene Betreuungsschlüssel von 150 Flüchtlingen auf einen Betreuer werde in Mittelsachsen mit durchschnittlich 1:111 sogar überboten. „Neben der Möglichkeit der telefonischen Kontaktaufnahme und der Konsultation in den Kontaktstellen werden die neuen Einwohner auch regelmäßig besucht“, beschreibt Landkreis-Sprecherin Cornelia Kluge. Besuche fänden einmal pro Woche oder aller 14 Tage statt.
Die Erfahrungen der Unterstützer sind allerdings andere. Annelies Heinze zeigt das Handyfoto eines Zettels, auf dem zwei Telefonnummern und zwei Uhrzeiten stehen. Di - Do, 13 - 17. Das ist die Zeit, in der Familien Probleme melden können. Besuche dagegen fänden nur einmal im Monat statt, „dann wird der Zähler abgelesen und nach Ungeziefer geguckt“.
Zuwenig, zu dünn, zu kalt, finden die Leute vom Unterstützerkreis. „Diese Menschen haben kein Konto, manchmal keine Papiere“, erzählt Annelies Heinze. Dann müssten die Kinder nach Oederan, weil nur dort eine Schule extra Deutschunterricht anbietet.
16 Kilometer, für Erstklässler kaum zu überwinden, denn es fährt kein Bus und ein Schulbus schon gar nicht. „Anfangs haben wir die Kinder mit unseren Privatautos gebracht“, erinnert sich Annette Schlauf. Später durfte ein Taxi beantragt werden. „Sofort ging ein Gegrummel los: Warum muss ich meine behinderte Tochter selbst fahren und die kriegen alles geschenkt?“
Muss das sein? Nein. Eine Frage der Organisation, glaubt Dirk Neubauer. Wo alles darauf angelegt ist, zu signalisieren, dass jemand nicht gewollt sei, könne keine positive Routine entstehen, die Integration erleichtert. Es würden Hürden gebaut. „Da müssen alle Familienmitglieder samt Babys auf dem Amt erscheinen, nur um sich Formulare abzuholen.“
Augustusburg: Es fehlen Dolmetscher
Die dann der Reparaturbetrieb ausfüllt, als der sich die Unterstützergruppe inzwischen fühlt. Die Verantwortung werde so lange nach unten gereicht, bis niemand mehr da sei, der sie weitergeben könne, sagt Annelies Heinze.
„Fünfzehn Worte Englisch“ spreche Leila, die Frau, die mit ihrem schwerkranken Mann Ali und den beiden Kindern gerade angekommen sei. Und kein Dolmetscher weit und breit. Die Wohnung, in der die Familie nun lebe, sei „mit drei Stahlspinden, drei Stahlrohrbetten und einem Sprelacardtisch möbliert“, sagt Dirk Neubauer. „Als ich den Vater sitzen sah, in Tränen aufgelöst, ist mir der Kragen geplatzt.“
Neubauer, der eine Art gläsernes Rathaus beim Netzwerk Facebook betreibt, setzte sich spontan vor eine Kamera und machte seine Wut und Verzweiflung über eine Situation öffentlich, die er für unerträglich hält.
„Das ist eine schleichende humanitäre Katastrophe, das dürfen wir nicht mehr mitmachen“, sagt der Mann, den die Flüchtlinge „Kreisl Baladia“ nennen, sozusagen den Obersten vom Ort. Es ist nur ein kleiner Ort, tief in Sachsen. Ein Ort, der nur ein paar Flüchtlingsfamilien abbekommen hat, von denen einige längst „normale Nachbarn geworden sind“, wie Annette Schlauf sagt.
Ein Ort, der nicht zerrissen ist, nicht überfordert und nicht unwillig zu helfen, wie der Berg an Spielzeug und Klamotten zeigt, den die Augustusburger nach dem Aufruf ihres Bürgermeisters binnen weniger Stunden für die Alis sammelten. „Reicht für fünf Familien“, lacht Dirk Neubauer. Beim Landkreis liegt inzwischen eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen ihn vor. (mz)