Debatte um Schulnoten „Einser-Abi-Flut“: Hat Deutschland ein Bestnoten-Problem?
Es gebe im Vergleich zu früheren Zeiten deutlich mehr Abiturienten mit Einser-Schnitt, sagt der Deutsche Lehrerverband. Doch ist das wirklich so? Ein genauerer Blick in die Statistik lohnt sich.

Berlin - Haben Schüler es heutzutage leichter, ein Abi mit Einser-Schnitt hinzulegen? Der Deutsche Lehrerverband sieht eine Tendenz in diese Richtung und warnt vor einer Entwertung des Abiturs. „Im Vergleich zu früheren Jahren gibt es eine Flut an Einser-Abis“, sagte Verbandspräsident Stefan Düll. Sowohl beim Anteil der Jugendlichen, die eine Abiturnote zwischen 1,0 und 1,9 erreichten, als auch bei Schülern mit der Bestnote 1,0, gebe es einen deutlichen Anstieg.
„In den 80er- und 90er-Jahren gab es an einem durchschnittlichen Gymnasium fünf bis zehn Leute mit einem Schnitt 1,0 bis 1,9, heute sind es oft doppelt bis dreimal so viele“, erklärte Düll. Die „Rheinische Post“ hatte über die Äußerungen berichtet.
Lehrerverband: Abitur darf nicht nur „Studienberechtigung“ sein
Zwar sei das Abitur „nichts, was einem hinterhergeworfen wird“, schränkte der Verbandspräsident ein. Dennoch dürfe an der Qualität nicht weiter herumgedoktert werden. Es sei wichtig, dass das Abitur nicht nur die Bescheinigung einer Studienberechtigung, sondern auch die einer „Studienbefähigung“ darstelle, erklärte Düll auf Nachfrage der dpa.
Zuspruch erhält der Lehrerverband aus den Reihen der Union. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Christoph Ploß sagte ebenfalls der „Rheinischen Post“: „Das Abitur wird immer stärker entwertet, wenn immer mehr Schüler Jahr für Jahr bessere Zensuren bekommen.“ In Deutschland gebe es eine „Noteninflation“, die gestoppt werden müsse.
Daten zu Abitur in Deutschland zeigen keine eindeutige Tendenz
In seiner Analyse stützt sich der Lehrerverband eigenen Angaben zufolge vor allem auf Daten, die einen deutlichen Anstieg der Abitur-Bestnoten seit 2006 belegen. So verweist der Verband beispielsweise auf eine Statistik der Bundeszentrale für politische Bildung, die zeigt, dass der Anteil der Abiturienten mit den Abschlussnoten 1,0 bis 1,4 über alle Bundesländer hinweg zwischen 2006 und 2022 deutlich angestiegen ist.
Auch in der Schule habe sich einiges verändert, was diese Entwicklung laut Lehrerverband begünstigt. So seien Schulklassen heute heterogener. „Benotungen sind auch immer von der Relation innerhalb der Gruppe abhängig, heterogene Leistungen in einer Gruppe führen dazu, dass Leistungen, die vor 20 Jahren gut waren, heute als sehr gut eingeschätzt werden. Der Maßstab verschiebt sich“, schreibt der Verband.
Allerdings zeigt sich in der Statistik auch eine Veränderung in den Nach-Corona-Jahren 2023 und 2024, die alle Bestnoten bis einschließlich 1,9 betrifft. Nach dpa-Recherchen geht etwa aus der Abitur-Statistik der Kultusministerkonferenz bis 2024 keine eindeutige Tendenz hin zu mehr Abiturabschlüssen zwischen 1,0 und 1,9 in jüngster Vergangenheit hervor. Demnach lag in den Jahren 2021 und 2022 etwa in Bayern die Quote derjenigen, die einen solchen Abschluss schafften, mit mehr als 35 Prozent noch höher als in den Folgejahren. 2023 und 2024 erreichten diesen Schnitt dort im Vergleich nur noch etwa 30 Prozent der Schüler. Die Abitur-Daten für dieses Jahr 2025 liegen noch nicht in allen Bundesländern vor.
Auch Länderunterschiede bei Spitzenabitur von 1,0
Zum Spitzenabitur von 1,0 gibt es je nach Bundesland unterschiedliche Ergebnisse. So teilte etwa das sächsische Kultusministerium mit, dass in diesem Jahr weniger Abiturienten diesen Bestschnitt erreicht hätten. Während es im vergangenen Jahr noch 402 Schülerinnen und Schüler mit 1,0-Schnitt waren, seien es nun 353 gewesen.
Aus Hessen heißt es dagegen, dass in diesem Jahr 5,1 Prozent der Abiturienten einen Abitur-Schnitt von 1,0 geschafft hätten. 2020 seien es dagegen 2,9 Prozent gewesen. Auch in den Jahren 2021 bis 2024 habe sich mit einem Anteil von jeweils mehr als vier Prozent ein Anstieg gezeigt.
Die Pressestelle der Kultusministerkonferenz, die zur Bestnote 1,0 eine Statistik der vergangenen Jahre vorliegen hat, spricht auf dpa-Anfrage von einem „Peak“ in den Jahren 2021 und 2022, der sich aber in den darauffolgenden Jahren 2023 und 2024 nicht fortgesetzt habe. Die Zahl der Abiturienten mit 1,0-Schnitt sei also in den beiden Nach-Corona-Jahren wieder zurückgegangen.
Unterm Strich lässt sich also sagen: Einen eindeutigen Beleg für eine Art „Noteninflation“, wie sie Union und Lehrerverband beklagen, gibt es zumindest mit Blick auf die jüngste Vergangenheit nicht. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Lage in den kommenden Jahren entwickelt.
Linke will Schulnoten komplett abschaffen
Eine mit der Union und anderen Parteien unvereinbare Sonderposition zu diesem Thema nimmt die Linke ein. Noten gehörten gänzlich aus den Schulen verbannt, erklärte die bildungspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, Nicole Gohlke. „Wir setzen uns weiter für die Abschaffung von Noten und Hausaufgaben ein“, sagte sie der „Rheinischen Post“. Statt über zu viele Einser-Abis zu diskutieren, sollte die Qualität des Bildungssystems im Vordergrund stehen. Die Diskussion über Noten gehe am Thema vorbei.