Deutscher Bundestag Deutscher Bundestag: Große Koalition schwächt Rolle der Volksvertreter
Der neue Mann im zweithöchsten Staatsamt hat dieses in dem Wissen betont, dass eine Große Koalition es den 614 Parlamentariern in den kommenden vier Jahren in mehrfacher Hinsicht nicht leicht macht. Zuerst hat Lothar Bisky zu spüren bekommen, mit welcher Wucht eine Mehrheit von 448 schwarz-roten Abgeordneten dominieren kann. Dass der Linksparteichef in drei Wahlgängen die notwendige Mehrheit für die Bundestags-Vizepräsidentschaft verfehlte, entspricht nicht dem von Lammert beschworenen respektvollen Umgang mit der Opposition.
Andererseits schwächt die große Mehrheit, auf die sich die Koalition aus Union und Sozialdemokraten stützen könnte, auch die Position der schwarz-roten Abgeordneten. Schon in den Koalitionsverhandlungen arbeiten nur einige wenige Parlamentarier neben Länderchefs und designierten Ministern an den Vereinbarungen mit. Den allermeisten Volksvertretern bleibt nicht mehr, als die in exklusiven Kreisen beschlossenen Sach- und Personalentscheidungen durchzuwinken.
Dies gilt erst recht, wenn es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen der Regierung und den sie tragenden Fraktionen kommen sollte. In einer Großen Koalition muss die Regierung auf Minderheiten in den eigenen Reihen weit weniger Rücksicht nehmen. Reichte in der vergangenen Legislaturperiode eine Hand voll "Abweichler" aus, um die rot-grüne Koalition an den Rand des Abgrundes zu treiben, so könnten sich rechnerisch demnächst bis zu 140 Abgeordnete von CDU / CSU und SPD dem Willen der Regierung verweigern - und trotzdem hätte das neue Machtduett "M & M", Merkel und Müntefering, seine Mehrheit.
Drittens aber eröffnet die neue Machtkonstellation den Parlamentariern größere Freiheiten. Manche werden sich nicht mehr ohne weiteres der Fraktionsdisziplin unterwerfen. Sie werden nicht durch angedrohte Vertrauensfragen zum Sprung über den eigenen Schatten genötigt. Sie werden ihre Auffassung freier äußern können, sie dürfen Nein sagen. Das tut offenem Diskurs gut. Zumal von den drei Oppositionsfraktionen, die sämtlich über beachtliche Debattenredner verfügen, kontroverse und gelegentlich unterhaltsame Beiträge zu erwarten sind.
Schon dem Wortsinn nach lebt das Parlament von seinen Reden und Rednern. Nicht zuletzt von deren Qualität hängt es ab, ob das schwarz-rote Kabinett in die Versuchung zum "Durchregieren" gerät. Nicht zuletzt auch von der wechselseitigen Achtung, mit der die Fraktionen sich begegnen.