Das Fluchtmuseum Das Fluchtmuseum: Das Kriegsgefangenenlager Colditz war nicht so sicher wie gedacht

Colditz - Sein letztes Geheimnis offenbarte das einstmals sicherste Gefangenenlager des Dritten Reiches erst mit einem halben Jahrhundert Verspätung. 1993 inspizierten Bauleute das Dachgeschoss des sogenannten Kellerhauses, ein Gebäude, das auf Fundamenten ruht, die fast ein Jahrtausend alt sind.
Oben unter dem Dach des Hauses, das wohl nach der Brandschatzung der gesamten Anlage durch die Hussiten Anfang des 15. Jahrhunderts errichtet worden war, trat ein anderes Kapitel der Geschichte unvermittelt in die Gegenwart.
Kriegsgefangene in Colditz: Dunkles Kapitel der Geschichte
In einem Verschlag, der von außen nicht zu sehen gewesen war, fanden die erstaunten Bauarbeiter einen Tisch, zwei Hocker und ein kleines Regal. Die Wände waren mit Decken lichtdicht abgedunkelt, grob zusammengebaut stand vor dem Tischchen eine elektrische Schalttafel, und in kleinen Fächern lagen Utensilien zum Fälschen von Urkunden, Ausweisen und anderen Papieren.
Im Staub der Zeit hatte der Radioraum überlebt, den kriegsgefangene alliierte Offiziere in den 40er Jahren insgeheim eingerichtet hatten, als das prächtige Schloss über der 8500-Einwohnerstadt im heutigen Landkreis Leipzig das vielleicht dunkelste Kapitel seiner Historie erlebte.
Als Oflag IV C diente das überwiegend von Kurfürst Friedrich dem Weisen, von 1486 bis 1525 Kurfürst von Sachsen, errichtete Renaissance-Schloss als Kriegsgefangenenlager für höhere Offiziere der polnischen, niederländischen, französischen und britischen Armeen. Weil Colditz mitten im Deutschen Reich lag, fernab jeder Grenze, und die baulichen Gegebenheiten eine strenge Bewachung der Insassen erlaubten, glaubte das verantwortliche Oberkommando der Wehrmacht, hier ein absolut ausbruchssicheres Lager betreiben zu können.
Gefangene hatten gewisse Privilegien - und Chancen zur Flucht
Dabei bemühte sich der Generalstab mit Blick auf die eigenen Offiziere, die in alliierten Gefangenenlagern saßen, die grundsätzlichen Regeln der Genfer Konvention nicht außer Kraft zu setzen, die gefangengenommenen Offizieren der jeweiligen Gegenseite bestimmte Privilegien zusichern - so etwa den Empfang von Postsendungen und Paketen von daheim. Neutrale Staaten überprüften die Einhaltung bei mehrfach jährlich durchgeführten Kontrollen.
Dass Schloss Colditz sicher war, entpuppte sich schnell als Irrtum. Denn obwohl im Oflag IV C mehr Wachpersonal eingesetzt wurde, mehr Zählappelle stattfanden und regelmäßige Durchsuchungen der Zellen der Insassen die Vorbereitung von Fluchtversuchen nahezu unmöglich zu machen schienen, wurde Colditz vor allem in Großbritannien und Frankreich als „Fluchtakademie“ zur Legende.
Immer wieder schafften es wagemutige Gefangene, allein oder in kleinen Gruppen auszubrechen. Immer wieder fanden sie neue Wege, die Mauern der Festung weit oberhalb der Stadt zu überwinden und in Freiheit zu gelangen. Bei 300 Versuchen in drei Jahren gelang 31 Gefangenen insgesamt nicht nur der Ausbruch, sondern auch die Flucht bis in die neutrale Schweiz oder über Frankreich und Spanien bis nach Gibraltar.
Besonderheit in Colditz: Pappkamerad täuschte Wärter
Dabei nutzten die zumeist britischen, französischen, niederländischen und polnischen Offiziere falsche Uniformen, selbstverfertigte Ausweispapiere, nachgemachte Waffen und bei einer Gelegenheit sogar eigens hergestellte Pappkameraden, die beim Zählappell anstelle der echten Gefangenen vorgezeigt wurden. So blieb denen mehr Zeit, ihren Fluchtplan umzusetzen.
Der britische Aufklärungsoffizier Airey Neave schaffte es als erster Ausbrecher im Januar 1942 in einer nachgeschneiderten deutschen Uniform aus dem Schloss. Leutnant Bill Fowler und der holländische Fregattenkapitän Damiaen van Doorninck brachen unterstützt von anderen ein Loch in den Fußboden eines Büros, um verkleidet als deutsche Offiziere aus dem darunterliegenden Wäschelager zu marschieren.
Gefangene in Colditz: Zwei Fluchtversuche pro Woche
Jeder der durchschnittlich zwei Fluchtversuche pro Woche wurde von der deutschen Wachmannschaft akribisch ausgewertet. Dabei sammelten die Soldaten Fälscherwerkzeug, nachgemachte Waffen, Baupläne und zum Teil über die Post eingeschmuggeltes Tintenpulver, Feilen und elektronische Bauteile.
Im Museum Schloss Colditz ist der von der Wehrmacht als „Fluchtmuseum“ bezeichnete Bestand, der seinerzeit zu Weiterbildungszwecken diente, bis heute zu sehen. Vor allem britische Besucher kommen, um sich die im Original erhaltenen Zellen in den hinteren Fürstenhäusern anzuschauen. „Colditz Castle“ ist in Großbritannien ein nationaler Mythos, der von der Unbeugsamkeit und vom Einfallsreichtum der hier eingesperrten Offiziere erzählt.
In Colditz zu sehen gibt es bis heute auch den Nachbau eines Segelflugzeuges, das die Gefangenen um die beiden Jagdflieger Jack Best und Bill Goldfinch 1945 insgeheim gebaut und bereits auf den Dachboden transportiert hatten. Von hier aus sollte der Fluchtflieger über das vor dem Schloss liegende Tal mit der Zwickauer Mulde segeln und zwei Fluchtwilligen einen Vorsprung vor möglichen Verfolgern verschaffen.
Ehe Best und Goldfinch testen konnten, ob ihr Flugzeug aus Stuhlbeinen, Bettlaken und Fußbodenbrettern die Aufgabe gemeistert hätte, trafen US-Truppen in Westsachsen ein, die Colditz in kurzen, aber heftigen Kämpfen befreiten. Der letzte Oflag-Kommandant Oberst Gerhard Friedrich Prawitt übergab das Gefangenenlager kampflos.
Der „Colditz Cock“ genannte Segelflieger bewies 55 Jahre später, dass alle Berechnungen richtig gewesen waren: Ein Nachbau flog in Anwesenheit der beiden Erbauer Best und Goldfinch problemlos die geplante Strecke über den Fluss. (mz)
www.schloss-colditz.com, www.colditz.info
