Anthropologie Anthropologie: Psychologie beim Spielen
LEIPZIG/MZ. - Der Eineinhalbjährige läuft erst los, als sein erwachsenes Gegenüber ein hilfloses Gesicht macht und mit den Schultern zuckt. Doch Max öffnet nicht die gelbe Kiste, sondern eine pinkfarbene, die zwei Meter entfernt steht. Aus der holt der kleine Junge triumphierend eine grüne Plüschraupe hervor - von der er glaubt, dass Buttelmann sie gesucht hat.
Die Szene spielt sich nicht im Kinderzimmer von Max ab, auch nicht in dessen Kita. Sondern im Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Und David Buttelmann ist nicht Erzieher, sondern Psychologe - im vorigen Jahr wurde er promoviert. "Child Lab" heißt der Bereich, in dem der 30-Jährige und rund 80 weitere Wissenschaftler, Forschungsassistenten, Praktikanten und studentische Hilfskräfte arbeiten. Die Mitarbeiter der Abteilung für vergleichende und Entwicklungspsychologie gehen, vereinfacht gesagt, der Frage nach, ab wann Kinder was können. Wann welche kognitiven Fähigkeiten wie ausgeprägt sind. Wie sie also ihre Umwelt wahrnehmen. Und warum. "Warum", sagt Buttelmann, "verhalten wir uns so, wie wir uns verhalten?" Rund 30 Studien mit Kindern zwischen neun Monaten und vier Jahren laufen zurzeit.
Die Themen sind vielfältig: Es geht um soziales Lernen oder um Spracherwerb. Darum, ob und wie Kinder helfen. Ob und wann sie mitbekommen, dass andere Menschen anders denken. Zum Beispiel David Buttelmann. In der Studie mit den bunten Kisten erforschen der junge Wissenschaftler und seine Kollegen, wann Kinder in der Lage sind zu erkennen, dass jemand eine falsche Vorstellung von der Realität hat.
Das klingt kompliziert, mit Hilfe der grünen Plüschraupe und der Kisten ist es aber ganz einfach: ein unscheinbarer Raum im Max-Planck-Institut. Grauer Teppichboden, weiße Wände. Auf dem Fußboden stehen die gelbe und die pinkfarbene Kiste. Max nimmt mit Buttelmanns Kollegin Yvonne Otto einen Holz-Stapelturm auseinander. Buttelmann kommt herein, in der Hand die Raupe. Er zeigt sie Max, lacht und scherzt mit ihm. Dann legt er das Plüschtier in die gelbe Kiste und verlässt den Raum. Kaum hat er die Tür hinter sich geschlossen, versteckt Otto die Raupe in der anderen Kiste. Buttelmann kommt wieder herein, er versucht die gelbe Kiste zu öffnen. Max hilft ihm - indem er die pinkfarbene öffnet.
"Er hat erkannt, dass ich die Raupe in der falschen Kiste gesucht habe und hat mir die richtige gezeigt", sagt Buttelmann. Mit insgesamt 25 Kindern im Alter von eineinhalb Jahren haben die Leipziger Forscher dieses Spiel gespielt. Das Ergebnis: 72 Prozent von ihnen reagieren so wie Max.
"Damit ist klar, dass auch Kleinkinder in diesem Alter bereits erkennen, wenn jemand falsche Vorstellungen hat", sagt Buttelmann. Aus Erwachsenensicht mag das unspektakulär wirken. "Aber", sagt Buttelmann, "die Kinder müssen sich erst klar machen, dass ich irrtümlicherweise denke, die Raupe sei noch in der gelben Kiste." Bisher sei die Forschung davon ausgegangen, Kinder hätten diese Fähigkeit erst im Alter von vier oder fünf Jahren. Was sich damit anfangen lässt? Die Antwort des Psychologen fällt eindeutig aus: "Was wir hier machen, ist Grundlagenforschung." Um praktische Anwendungen geht es also erst einmal nicht. Die Ergebnisse könnten aber zum Beispiel, so Buttelmann, in Lehrbücher einfließen. Oder - das wäre dann eine praktische Anwendung - in einer Kita Platz finden.
Wie das? In einer anderen Studie haben Kollegen von Buttelmann herausgefunden, dass die Hilfsbereitschaft von Eineinhalbjährigen durch die Präsentation einfacher Bilder beeinflusst werden kann. Darauf zu sehen: Zwei Holzpüppchen, die sich anschauen und so eine Beziehung zueinander suggerieren. Damit, so die Forscher, sei offenbar das Unterbewusstsein der kleinen Probanden angeregt worden. "Man könnte überlegen", sagt Buttelmann, "ob man solche Bilder nicht in Kindergärten aufhängt."
Fast wichtiger als die Studienräume sind für die Kinder im Max-Planck-Institut freilich die beiden Spielzimmer. Puppengeschirr, Spielzeugautos, Kuscheltiere, ein Ball - alles da, damit die Kinder sich wohlfühlen und Spaß haben können. Buttelmann: "Sie sollen auch die Studien als Spiel wahrnehmen." Und eine Beziehung zu den Wissenschaftlern aufbauen. Denn in den meisten Fällen sind die Eltern bei den Versuchen zwar dabei, halten sich aber im Hintergrund. "Das Spielzimmer dient quasi zum Aufwärmen", sagt Buttelmann.
Die Namen von mehr als 1 000 Kindern zwischen drei Monaten und vier Jahren stehen in einer Datenbank, die sich die Wissenschaftler mit dem Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften teilen. Dort laufen ähnliche Studien, deren Probanden zum Teil aber jünger als neun Monate sind. Wer einmal angemeldet ist, kann sich immer wieder als "kleiner Wissenschaftler", so Buttelmann, betätigen. So war der 18 Monate alte Max schon an insgesamt vier Studien beteiligt. Nicht immer geht es dabei freilich nach den Vorstellungen der Forscher zu. "Einmal", erzählt Buttelmann, "wollte er partout nur mit seinem Vater spielen, mit niemandem sonst." Die Studie musste ohne Max stattfinden. Psychologe Buttelmann nimmt es gelassen: "Dann gibt es eben eine Spielstunde. So etwas müssen wir einkalkulieren."