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Analyse Analyse: Türken suchen Ausweg aus der Krise

Von Ingo Bierschwale 02.05.2007, 12:21

Istanbul/dpa. - «Wir dachten, alles läuft bestens, stattdessen stehen wir wieder einmal am Abgrund», lautete eine Analyse. Im Konflikt um die Neuwahl des Staatspräsidenten erklärte das Verfassungsgericht am Dienstagabend den ersten Wahlgang für ungültig. Auch das ein Novum: Es war das erste Mal in der Geschichte der Türkei, dass eine Präsidentenwahl überhaupt vor das Verfassungsgericht kam.

Seit Tagen erlebt die Welt eine Türkei, in der sich schlagartig alles Luft macht, was unter der Oberfläche gärte. Militär und Regierung stehen sich mit gezogenen Messern gegenüber, die Börse bricht ein, in Istanbul demonstrieren Hunderttausende - Republikaner, Frauen, Nationalisten und Kommunisten - Seite an Seite. Nicht die parlamentarische Opposition, deren Führer sofortige Parlamentswahlen fordern, bringt die Massen auf die Straße, es sind Frauenorganisationen - und diffuse Zukunftsängste. «Ich habe Angst, ich bin für meine Enkel hier», sagt eine der Frauen in dem Fahnenmeer aus roten Flaggen mit Stern und Halbmond. «Frauen-Power», titelt die liberale Zeitung «Radikal» am Montag.

«Die Armee soll unsere Grenzen schützen und wie wir ihren Teil dazu beitragen, den Laizismus (die Trennung von Staat und Religion) zu bewahren», ruft die Kundgebungsleiterin Türkan Saylan. «Doch sicher, ganz sicher ist ein Putsch keine Lösung.» Was die Hunderttausende von Menschen bewegt - die Veranstalter sprechen von drei bis vier Millionen - bringen sie mit Slogans zum Ausdruck: «Keine Scharia, keinen Putsch». «Die Türkei ist erwacht, der Imam in Ohnmacht gefallen.» Vom Podium erschallt der Ruf: «Wir wollen einen Staatspräsidenten und eine First Lady, die den Laizismus verinnerlicht haben».

Genau dieses ist es, was Erdogan nach Ansicht von Beobachtern unterschätzt hatte, als er seinen Außenminister Abdullah Gül zum Kandidaten für das Amt des Staatspräsidenten ausrief - die Sprengkraft, die das politische Symbol «Kopftuch» in der in ein religiöses und ein weltliches Lager gespaltenen Türkei innehat. Unvergessen ist, dass Frau Gül vor Jahren eine Klage am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angestrengt hatte, weil ihr der Besuch der Hochschule wegen des Kopftuchs verweigert worden war.

Linke und rechte Parteien, die seit dem Wahlsieg der islamisch- konservativen AKP im November 2002 wegen ihrer Zersplitterung jegliche wirksame Opposition vermissen lassen, «sollen sich endlich zusammenschließen», lautet eine andere Forderung bei den Massenprotesten in Istanbul. Beobachter bezweifeln indes, dass sich die Stimmen, die sich am Sonntag in Istanbul Luft verschafften, bei vorgezogenen Neuwahlen auch einen Niederschlag in den Wahlurnen finden würden. Nicht wenige halten einen neuen Wahlsieg der AKP angesichts der Schwäche der Opposition für durchaus wahrscheinlich. Selbst die Armee habe es nach ihren Staatsstreichen von 1960, 1971 und 1980 nicht vermocht, bei den darauf folgenden Wahlen ihr genehmen politischen Parteien zum Sieg zu verhelfen.