Analyse: Experten wundern sich über Birthler-Behörde
Berlin/dpa. - Ob Strategie oder nicht: Pünktlich zum 46. Jahrestag des Mauerbaus ist die Debatte um die Aufarbeitung des DDR-Regimes neu entbrannt.
Wer kann wie zur Verantwortung gezogen werden für den jetzt aufgedeckten Stasi-Schießbefehl, der sich nicht nur gegen flüchtende Grenzsoldaten richtete, sondern auch zum Töten von Frauen und Kindern an der Grenze aufforderte? Auch wenn der frühere DDR-Staatschef Egon Krenz einen Befehl zum Töten weiter abstreitet und die Mauerschützenprozesse längst abgeschlossen sind, will die Berliner Staatsanwaltschaft nun juristische Schritte prüfen.
Fragen wirft auch auf, wie die Stasi-Unterlagenbehörde unter Marianne Birthler mit dem brisanten Dokument umging. Birthler hatte den Fund zunächst als neu und wichtig für die weitere Aufarbeitung eingeschätzt, musste dann aber eingestehen, dass sie ein vor zehn Jahren veröffentlichtes Dokument mit gleich lautendem Inhalt nicht kannte. Jetzt halten ihr Kritiker vor, mit «Sensationshascherei» für die eigenständige Zukunft ihrer Behörde werben zu wollen.
Birthler hält das Stasi-Dokument für wichtig, obwohl es nicht die allgemeine Befehlslage an der Grenze widerspiegele. «Es sieht doch so aus, als wäre das, was an der Mauer geschehen ist, noch längst nicht im Bewusstsein aller Menschen.» Viele gaben ihr Recht. Die Aufarbeitung der SED-Diktatur werde weiter mit Nachdruck gefördert, versicherte Vize-Regierungssprecher Thomas Steg. Auch der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Günter Nooke, sah es als gutes Zeichen, dass nun wieder Empörung über die menschenverachtende SED-Diktatur durch das Land gehe.
Dagegen wunderte sich Ferdinand von Schirach als ehemaliger Verteidiger von SED-Politbüromitglied Günter Schabowski, «dass immer noch ein paar Leute, die das eigentlich von Berufs wegen wissen müssten, auf dieses längst bekannte Papier ohne Briefkopf und Unterschrift hereinfallen».
Der Politikwissenschaftler Jochen Staadt von der Freien Universität Berlin meinte, außerhalb der Birthler-Behörde werde erst jetzt die Tragweite des Bespitzelungs-Systems an der Grenze durch getarnte, speziell ausgebildete Stasi-Einzelkämpfer richtig deutlich. Bei der Veröffentlichung 1997 habe wohl «niemand die Brisanz dieses Ausrisses erkannt, auch nicht der Forscher selbst, und das wundert mich in der Tat schon», sagte Staadt der dpa.
Dieser Wissenschaftler, der 1997 den Aktenfund für einen Dokumentenband beisteuerte, arbeitet weiterhin in der Stasi-Unterlagenbehörde. Dort war nun zu hören, damals sei den Forschern unter Behördenchef Joachim Gauck nicht klar gewesen, was sie in den Händen hielten. Nach Angaben von Nachfolgerin Birthler kam durch einen «Abgleich in der Registratur der Behörde» aber heraus, dass über Aktenfunde gleichen Inhalts in den 90er Jahren Staatsanwaltschaft und das Landgericht Berlin informiert wurden.
Auch eine Sprecherin des Ch.-Links-Verlags, wo der Dokumentenband erschien, wunderte sich darüber, dass Birthler lange nichts wusste. Immerhin erschien das Buch in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung in einer Auflage von 50 000 Exemplaren. Auch dies wirft ein Schlaglicht auf die Arbeitsweise und das Klima der Behörde, die zuletzt wegen der Beschäftigung von früheren Stasi-Mitarbeitern in die Schlagzeilen geraten war. Von «Verwalterei» ist da die Rede und von falschen Einschätzungen.
Hinter vorgehaltener Hand wird auch berichtet, dass der Magdeburger Außenstellenleiter der Stasi-Unterlagenbehörde seine Zentrale in Berlin schon Anfang Juni über das brisante Rechercheergebnis für die «Magdeburger Volksstimme» informierte. Dort habe man geprüft und geprüft und dann entschieden, nicht selbst die Öffentlichkeit zu informieren, weil es nicht «der Schießbefehl» gewesen sei.
Damit dürften sich auch Kritiker bestätigt fühlen, die Birthler vorwerfen, ihre Behörde nicht im Griff zu haben und eine Eingliederung der Stasi-Unterlagenbehörde ins Bundesarchiv befürworten. Zuletzt hatte Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) vorgeschlagen, die Behörde sollte sich auf die Erschließung von Stasi-Akten konzentrieren, während die Aufarbeitung des SED-Unrechts von einem Geschichtsverbund übernommen werden sollte.