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15. Dezember 15. Dezember: Verdurstet im Gitterbettchen

Von Katrin Zeiß und Simone Rothe 15.12.2006, 17:19
Ein Fahrzeug der Polizei-Kriminaltechnik steht am 15. Dezember 2006 in Sömmerda (Thüringen) vor einem Hauseingang. Ein zehn Monate altes Baby war hier in der Wohnung seiner Mutter verdurstet. (Foto: dpa)
Ein Fahrzeug der Polizei-Kriminaltechnik steht am 15. Dezember 2006 in Sömmerda (Thüringen) vor einem Hauseingang. Ein zehn Monate altes Baby war hier in der Wohnung seiner Mutter verdurstet. (Foto: dpa) dpa-Zentralbild

Sömmerda/dpa. - Seine zwei Jahre alte Schwester Lena litt ein Zimmer weiter in einem Laufgitter und überlebte. «Sie schrie erst, als die zwei Beamtinnen ihr Zimmer betraten», sagte ein Polizist am Freitag. Die 20 Jahre alte Mutter der Kinder nahm die Polizei wenige Stunden später bei einer Freundin fest - nur wenige Straßen entfernt. Seit dem zweiten Adventssonntag hatte sie ihre hilflosen Kinder in der dunklen und seit mehr als einem Monat stromlosen Wohnung, in der es nach verdorbene Lebensmitteln stank, nicht mehr besucht.

In dem Plattenbauviertel am Rand der Kreisstadt mit 21 000Einwohnern regieren die Menschen einen Tag nach der Tragödieentsetzt. Am Eingang zu dem Wohnblock mit fünf Geschossen, in demLeon und Lena über Tage unversorgt in der Vier-Zimmer-Wohnungzurückblieben, liegen Plüschtiere und Nelken. Kerzen brennen vor derTür, als erneut Kriminaltechniker der Polizei anrücken, um in derdritten Etage weitere Spuren zu sichern. Im Treppenhaus müssen dieMänner an mehreren Kinderwagen vorbei, die dort abgestellt sind.

In dem Wohngebiet, das noch den DDR-Namen «Neue Zeit» trägt, sindauffallend viele Mütter mit ihren Kindern unterwegs. Eine junge Frau,die ihren kleinen Sohn im Buggy den Bürgersteig vor demFünfgeschosser entlang schiebt, zündet eine Kerze an. «Wenn man sowas Schreckliches im Fernsehen sieht, ist das weit weg - und jetztpassiert so was hier nebenan.» Auf ihre Nachbarin ist sie nicht gutzu sprechen, sie kann nicht verstehen, warum sie ihre Kinder sovernachlässigte. «Ich empfinde nur noch Wut.» Früher habe sie häufigKontakt zu der 20-Jährigen gehabt, manchmal auch auf das Kindaufgepasst, aber in letzter Zeit nicht mehr. «Wenn es um die Kinderging, war sie sehr verschlossen», berichtet eine andere Nachbarin.

«Als der Mann weg war, ging das los, da war sie nur noch fort undhat die Kinder alleingelassen», erzählt eine ältere Frau, die seitfünf Jahren in dem Plattensilo wohnt. Das Jugendamt sei in letzterZeit öfter da gewesen, auch jemand vom Gericht. «Doch sie hat dieLeute nicht in ihre Wohnung gelassen und die Klingel abgestellt.»Manchmal habe man die Kinder schreien gehören.

Das Wohnviertel habe sich verändert in den vergangenen Jahren,erzählt ein älterer Mann in Jogginghose, Jacke und Basecap, derseinen Yorkshire auf dem Arm hält. Seit 1974 lebt er in der Straße.«Viele sind nach der Wende weggezogen, manche Blöcke wurden saniert,unserer nicht.» Heute lebten hier viele arbeitslose Menschen, HartzIV-Empfänger, Spätaussiedler. Der Block, in dem der kleine Leonverdurstete, ist unsaniert, Fassade, Balkons und Treppenhausversprühen spröde DDR-Atmosphäre, doch die Fenster sind weihnachtlichdekoriert.

Die junge und arbeitslose Mutter, die in einem Kinderheimaufwuchs, hatte reichlich Probleme. Weder Strom noch Miete konnte die20-Jährige bezahlen, von ihrem Ehemann hatte sie sich im September,einen Monat nach dem Umzug von einer Drei- in die Vier-Zimmer-Wohnunggetrennt. Den Mann, gegen den die Staatsanwaltschaft keinen Verdachthegt, habe sie nicht in die Wohnung gelassen, um die Kinder zu sehen,erzählt eine Frau. Ein Mal war die Polizei da, weil in der Wohnung zulaut gefeiert wurde. Kontakte zum Jugendamt gab es seit MitteNovember, auch zu einem Sozialarbeiter der Wohnungsgesellschaft, derdie junge Frau wegen der Mietschulden betreute. Doch die Alarmglockenschrillten nicht. Einen «auffälligen Zustand der Kinder» habe dasJugendamt zunächst nicht erkennen können - dennoch aber eineärztliche Untersuchung angeordnet und später den Entzug der Kinderbeantragt, sagt Oberstaatsanwältin Anette Schmitt.

Am Sonntag, einen Tag bevor ein Gericht die Kinder in die Obhutdes Vaters geben sollte, tauchte die junge Frau ab. «Ihr ist bewusst,dass ihre lange Abwesenheit für die Kinder ernste Konsequenzen habenkonnte», meint Erfurts Kriminalpolizeichef Herbert Bauer.