«Was wäre wenn...?» «Was wäre wenn...?»: Feuerwehrleute sind als Erste im NSU-Versteck
Zwickau/dpa. - Die junge Frau am Telefon ist aufgeregt. Als sie am 4. November 2011 um 15.11 Uhr den Notruf 112 in Zwickau wählt, kann sie der Feuerwehr zunächst den exakten Brandort nicht nennen. Nur der Straßenname fällt ihr ein. Doch die Leitstelle in Zwickau ist für ein viel größeres Terrain als die Stadt zuständig. Später ereilt ein weiterer Ruf die Zentrale, diesmal ist von einer Explosion die Rede. Die Berufsfeuerwehr ist schon unterwegs. Um 15.15 Uhr sind die Kameraden am Ziel, der Frühlingsstraße 26. Um 15.19 Uhr beginnen sie mit dem Löschen. Kollegen von Freiwilligen Feuerwehren sind schon angefordert. Die Zentrale vermutet eine Gasexplosion.
Während draußen Schaulustige aus sicherer Entfernung zuschauen, greifen Feuerwehrmänner von außen und innen gleichzeitig an. Drei Kollegen sind für den „Innenangriff“ eingeteilt. Sie stürmen ins erste Stockwerk, wo die Detonation offenbar ausgelöst wurde. Es geht darum, Menschleben zu retten. Aber nur eine der beiden Türen lässt sich problemlos aufbrechen. Die andere scheint besonders gesichert. Erst später, als Kettensägen zum Einsatz kommen, gibt die Tür nach. Zu diesem Zeitpunkt ist das Feuer schon unter Kontrolle. 1400 Liter Wasser pro Minute haben die Flammen besiegt. Die Ungewissheit über mögliche Opfer bleibt.
Und noch etwas wissen die Feuerwehrleute in diesen Minuten nicht: Sie befinden sich im zerstörten Versteck einer Gruppierung, die unter dem Kürzel NSU schon bald in aller Munde sein wird und deren mörderische Taten Deutschland verändern werden. Jahrelang hat sich die Neonazi-Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund hinter einer bürgerlichen Fassade in Zwickau versteckt, hat von hier aus eine blutige Spur durch ganz Deutschland gezogen. Mindestens zehn Todesopfer sollen auf das Konto der Rechtsextremisten gehen. In Zwickau sind sie in einem Viertel untergeschlüpft, dessen Straßen Namen wie Veilchenweg, Lilienweg oder Fliederweg tragen.
Wenn Heinrich Günnel, Chef des Zwickauer Feuerwehramtes, über den 4. November 2011 spricht, ist ihm noch immer Anspannung anzumerken. Der 57-Jährige weiß mehr, als er öffentlich sagen darf. Noch sind nicht alle Untersuchungen über die Verbrechen des NSU und möglicher Helfershelfer beendet. Deshalb lächelt Günnel manchmal nur still vor sich hin und lässt Fragen wie einen Wasserstrahl an einer Hauswand abprallen. Dennoch sind ihm die Daten des Einsatzes allgegenwärtig, nur ganz selten muss er die Kladde von damals in die Hand nehmen. Zur Erläuterung zeichnet er den Grundriss der Wohnung auf eine Tafel. „Das waren keine Dilettanten“, ist sich der Branddirektor sicher.
Vermutlich haben viele Feuerwehrleute nach Bekanntwerden aller Fakten so manches Mal im Konjunktiv gesprochen: „Was wäre wenn ...?“ Zum Beispiel, wenn das aus Jena stammende Trio Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe die Wohnung mit Sprengfallen gesichert hätte. Jene Tür, an der die Feuerwehrleute zunächst scheiterten, soll der Eingang zum „konspirativen Teil“ des Domizils gewesen sein. Vormals hatten sich zwei separate Wohnungen in der ersten Etage des Hauses befunden. Das Trio machte ein Appartement mit zwei Eingängen daraus. In der Nachbarschaft ging man davon aus, dass Mieterin Susann alias Zschäpe gemeinsam mit ihrem Mann und Schwager dort lebte.
Normalität empfindet am 4. November 2011 auch René Lübeck. Er arbeitet als Museumsaufseher und gehört zur Freiwilligen Feuerwehr Zwickau-Auerbach. Als er am besagten Nachmittag alarmiert wird, geht er von einem Routineeinsatz aus. Klar, eine Explosion hat man als „Freiwilliger“ nicht alle Tage, und zum ersten Mal ist Lübeck als Abschnittsleiter dabei. „Aber eigentlich war es nichts Besonderes. Da ist nicht die Sonne auf die Erde gefallen.“ Dass ein erfahrener Einsatzleiter vor Ort war, habe ihm Sicherheit gegeben. Über das „Was wäre wenn...?“ hat auch der 33-Jährige später nachdenken müssen: „Schlaflose Nächte hatte ich aber nicht.“
Günnel beschreibt die Gefühlslage der Kollegen in den Tagen danach so: „Wir sind noch einmal geboren worden.“ Als klar gewesen sei, dass am Brandort auch Waffen und Munition lagerten, habe jeder begriffen: „Das hätte hochgehen können.“ Auch ein weiterer Zufall trägt zur Erleichterung bei. Während das frühere griechische Restaurant im Erdgeschoss der Frühlingsstraße 26 schon seit geraumer Zeit leer steht, bauen unter dem Dach Handwerker gerade eine Wohnung aus. Als das NSU-Versteck in die Luft fliegt, sind zwei von ihnen schnell mal für einen Kaffee außer Haus. Ein Dritter, der nie mit zum Vespern ging, fehlt an diesem Tag zufällig.
Immer wieder diese Ungewissheit. Sie nagt in den Minuten seit dem Notruf an allen Einsatzkräften. Schon bald ist klar, dass Zschäpe nicht mehr im Haus sein kann. Sie hat bei einem Nachbarn ihre beiden Katzen hinterlassen und ist dann weggerannt. Aber was ist mit den beiden Männern, die mit Vorliebe schwarze Klamotten trugen und sich mit Jogging fit hielten? Als der Brand gelöscht ist, suchen die Beamten nach Leichenteilen, auch ein Fährtenhund kommt zum Einsatz. Noch weiß keiner, dass Böhnhardt und Mundlos zu diesem Zeitpunkt schon ein paar Stunden tot sind. Sie haben sich nach einem Banküberfall in Eisenach das Leben genommen.
Viele Fragen bleiben. Löste Zschäpe eine Explosion aus, um Spuren zu verwischen? Aber warum ließ sie dann Waffen und andere Beweisstücke nicht verschwinden? Und warum verschickten Zschäpe oder mögliche Komplizen nachher jenes Bekenner-Video mit dem makabren Comic von „Paulchen Panther“, auf denen die Taten so menschenverachtend in Szene gesetzt sind? Gehörte zum „Plan B“ vielleicht sogar das Szenario, dass Zschäpe bei der Explosion selbst sterben sollte? Günnel spricht von Kaffeesatzleserei. Er selbst kann das Versteck unmittelbar nach dem Feuer in Augenschein nehmen, manches in der Wohnung wirkt unversehrt.
Günnel erinnert sich an einen Teppich, der fast keine Brandspuren aufwies. Auch das Hochbett und die Sprayflaschen hatten keinen Schaden genommen. Um 2.00 Uhr in der Nacht ist der Einsatz beendet. Ein Bagger hat bereits so viele Trümmer beseitigt, dass es zum Einsturz nicht mehr kommen kann. Am Tag darauf sind die Zwickauer Polizisten und Feuerwehrleute noch einmal in der Brandruine. Doch dann kommt überraschend der Befehl zum Abzug. Die Verbindung zwischen den Tatorten Eisenach und Zwickau hat sich geschlossen. Fortan haben die Experten des Bundeskriminalamtes (BKA) das Sagen. Sie bleiben lange in Zwickau. Für alle anderen bleibt das Gebäude tabu.
Ein Jahr danach markiert in der Frühlingsstraße 26 nur noch eine hoch aufragende Konifere das frühere Grundstück. Die Stadt hat die Hausruine für 200 000 Euro aufgekauft und abreißen lassen. Alles in allem beläuft sich die Rechnung auf 300 000 Euro. Die Kosten des Rettungseinsatzes - 44 000 Euro - wurden Zschäpe in Rechnung gestellt - bis zum Ende ihres Prozesses, der vermutlich im Februar in München beginnt, hat Zwickau diese Forderung aber zurückgestellt. Oberbürgermeisterin Pia Findeiß (SPD) sieht die Stadt auf dem Weg zur Normalität. Dass ausgerechnet Zwickau zum Versteck wurde, wirkt für sie wie ein Zufallstreffer in einem perfide ausgeklügelten Plan.
Amtschef Günnel ist stolz darauf, dass mit dem schnellen Eingreifen der Feuerwehr viele Beweisstücke gerettet werden konnten. Dass Dutzende Beamte des BKA wochenlang in Zwickau leben, verbucht Findeiß als einzige positive Erfahrung dieser Zeit: „Sie wurden von ihren Familien besucht und konnten sehen, wie unsere Stadt wirklich ist - freundlich und zuvorkommend.“ Die Bewohnerin aus der anderen Haushälfte der Frühlingsstraße hat unterdessen eine neue Wohnung gefunden. Und auch für die restlichen Bewohner ist gesorgt: Eine der beiden Katzen von Zschäpe konnte rasch anonym vermittelt werden - die andere lebt noch im Zwickauer Tierheim.