Strafvollzug Strafvollzug: Pommerenke sitzt seit 47 Jahren im Gefängnis

Karlsruhe/dpa. - Nur länger und dünner ist es geworden, es wellt sich grau imNacken. Auch die Augen nehmen manchmal diesen seltsamen Ausdruck an,mit dem er damals an der Kamera vorbei ins Leere blickte: nicht kaltund brutal, wie man das von einer «Bestie in Menschengestalt»erwarten würde - so nannte ihn die Presse damals -, sondern eherverschlossen und scheu. Dann weiß man, dass man die falsche Fragegestellt hat.
Es ist ein trüber Oktobertag, als sich die Stahltüren derJustizvollzugsanstalt Bruchsal (Baden-Württemberg) für einen Besuchbei Deutschlands am längsten inhaftierten Strafgefangenen öffnen. Alsder gebürtige Mecklenburger Pommerenke am 19. Juni 1959 eingesperrtwurde, hatten sie in Berlin noch nicht mal die Mauer gebaut. Die istinzwischen längst abgerissen, doch Pommerenke sitzt immer noch. Seitmehr als 47 Jahren lebt er in jener bizarren Welt, in der das Rasselnder Schlüssel und das Schlagen der schweren Eisentüren den Taktangeben. Morgens fegt er 4,7 Stunden den Werkhof, nachmittags 2,7Stunden, dann wird die Zelle wieder zugeschlossen. Was bleibt nach sovielen Jahren übrig von einem Menschen, der einer der Furchterregendsten Mörder in der deutschen Justizgeschichte war?
Im Südwesten lebten die Menschen damals in Angst und Schrecken vordem Serienmörder. Zwischen dem 15. September 1958 und dem 19. Juni1959 beging er 27 Straftaten von besonderer Schwere, wie das imGerichtsdeutsch heißt. Vier Frauen hat er auf brutale Weise ermordetund zahlreiche weitere überfallen. Er hat vergewaltigt, geraubt,gestohlen. Das Landgericht Freiburg verhängte sechs Mal lebenslangesZuchthaus, dazu - aus Einzelstrafen von zusammen 156 Jahren - weitere15 Jahre Gesamtstrafe.
Heute mag der 69-Jährige nicht viel sagen zu den «Gewalttaten, dieich nicht vollbringen wollte». Es ist der einzige Punkt im Gespräch,an dem er die Augen niederschlägt. Wie viele Straftäter, die eineErklärung für das Unerklärliche liefern wollen, kommt er auf seineärmliche und lieblose Jugend zu sprechen - der Vater soll ihn mit derneunschwänzigen Lederpeitsche traktiert haben. Wie so oft sind seineWorte rätselhaft: «Ich wurde zu Hause geschlagen, weil ich nicht bösesein wollte.»
Nach dem Foto von 1960 wäre er kaum wiederzuerkennen: Aus derhageren Nachkriegsgestalt ist ein massiger alter Mann geworden, dersein Gesicht hinter einem mächtigen weißen Bart versteckt.Wissenschaftler gehen davon aus, dass Abstumpfung und Resignationnach 20, 25 Jahren Gefängnis nahezu unausweichlich werden. Doch injenem kargen Besucherraum der JVA Bruchsal sitzt einer, deraufmerksam zuhört, Fragen begreift, einer, dessen Blick dem Gegenüberzweieinhalb Stunden standhält. Augen, die heitere Fältchen bekommen,wenn ihm ein Scherz gelingt, ein Blick, der mild und herzlich seinkann wie bei einem freundlichen Großvater. Um dann unversehens wiederdunkel und undurchdringlich zu werden.
Seine Antworten verlieren sich freilich oft genug im Dickichtseiner Gedankenwelt. Aus der Bergpredigt im Neuen Testament hat ersich eine Art geistige Zuflucht gebaut - vor dem herzlosenKnastalltag, aber auch vor der eigenen Schuld. Dort ist viel vonVergebung und Versöhnung die Rede. «Was noch nicht automatisch heißt,dass ich morgen lebensfähig wäre draußen», schränkt er rasch ein.«Ich möchte nicht entlassen werden, wenn die Frauen vor mir schreienddavon laufen müssen.»
Was vor einer Entlassung geschehen müsste, formuliert er in seinereigentümlichen Sprache so: «Die Ellenbogenfreiheit müsste wiedereingeschränkt werden durch die Erarbeitung von Gewissensbissen.» DieErarbeitung von Gewissensbissen: Damit hat die Justiz ihn alleingelassen. 34 Jahre hat es gedauert, bis er - unter Aufsicht -erstmals für ein paar Stunden ins Freie durfte, vier Jahrzehnte, bisman ihm erstmals ein paar Stunden Therapie gewährte, die seinhartnäckiger Anwalt Hannes Linke mit immer neuen Eingaben erkämpfenmusste: «Die haben ihn immer nur weggesperrt.» Derzeit bekommt ervier Ausführungen pro Jahr. Ein Sicherheitsbeamter ist dabei, und derpensionierte Gefängnispfarrer Ernst Ergenzinger - sein Betreuer undFreund, dem «der Heinrich» längst zur Lebensaufgabe geworden ist.
Dabei hat das Recht sich grundlegend geändert seit jenen Tagen,als Pommerenke, wenn er randalierte, kurzerhand in Dunkelhaftgesteckt wurde. Das Zuchthaus wurde abgeschafft, dasResozialisierungsgebot eingeführt, und das Bundesverfassungsgerichtversprach schon 1977, jeder Mensch, auch der Schlimmste derSchlimmen, müsse eine konkrete und realisierbare Chance haben, derFreiheit wieder teilhaftig zu werden.
Und als die Justiz den damals krebskranken Pommerenke einfach imKnast sterben lassen wollte - die Ärzte gaben ihm maximal noch fünfJahre -, befassten sich die höchsten deutschen Richter 1995 direktmit seinem Fall: Die Chance auf Freiheit auf einen «von Siechtum undTodesnähe gekennzeichneten Lebensrest zu reduzieren», wäre mit derWürde des Menschen unvereinbar.
Schöne Worte waren das. Nur hat sich dadurch wenig verändert. Zwarhat die Justiz auf den Karlsruher Druck hin eingelenkt - PommerenkesStrafe gilt seit neun Jahren als verbüßt. Doch aus Sicht einesSachverständigen ist die Rückfallgefahr nicht ausgeräumt, eineEntlassung verbiete sich deshalb. Es ist ein Teufelskreis: Ohne einelängerfristige Therapie - die ihm jahrzehntelang verweigert wurde -gilt der 69-Jährige weiterhin als Sicherheitsrisiko.
Baden-Württembergs Justizminister Ulrich Goll (FDP) sieht freilichdie Schuld dafür bei Pommerenke selbst. Er habe angebotene Therapienausgeschlagen und andere vorgeschlagen, die nicht möglich gewesenseien. «Er kann sich nicht raussuchen, wie er therapiert werdenmöchte, er muss sich auch darauf einlassen, was wir ihm anbieten.»Nun wird ihm zwar eine Sozialtherapie angeboten, die - wenn sich dasRückfallrisiko dadurch verringern sollte - zumindest einetheoretische Chance bedeutet. Nur fürchtet sich der gesundheitlichschwer angeschlagene Diabetiker davor, weil er sich Triebhemmerspritzen lassen müsste, Chemie mit drastischen Nebenwirkungen.
Es sieht fast so aus, als würde der Oberstaatsanwalt Rechtbehalten, der 1960 eine regelrechte Höllenstrafe beschwor. HinterPommerenke «werden sich neun Tore schließen, durch die er nie mehrherauskommen soll». Heinrich Pommerenke hat die Hoffnung noch nichtaufgegeben, doch die Ziele sind kleiner geworden: Vielleicht ein paarzusätzliche Ausführungen pro Jahr, oder ein bisschen mehr Spielraumim rigiden Knastalltag - er hätte seine Zelle gern rosa gestrichen.Was er machen würde, wenn er draußen wäre? «Schnecken und Fischezüchten. Mich in der Natur bewegen.»