Knochenmark-Spende Knochenmark-Spender Mario Scharfe: Sechsjähriger aus Texas lernt Lebensretter aus Wernigerode kennen

Wernigerode - Etwa 1,70 Meter groß, schmächtig, Brille - so sehen Lebensretter aus. Mario Scharfe, 33, aus Wernigerode wird am 31. Juli in Frankfurt um 8 Uhr in ein Flugzeug der Lufthansa steigen. Nach einem kurzen Zwischenstopp in Chicago wird er gegen 17 Uhr Ortszeit in Dallas/Fort Worth landen.
Knapp zwei Autostunden vom Flughafen entfernt, in Mineola, wohnt Riley. Es war so nicht geplant, aber die beiden werden sich voraussichtlich auf den Tag genau sechs Jahre nach der Spende das erste Mal treffen.
Sechs Jahre nach der Knochenmark-Spende treffen sich in Texas der kleine Riley und sein Spender Mario Scharfe
Der Junge ist jetzt sechseinhalb Jahre alt, und er würde nicht leben, wenn Mario Scharfe ihm nicht einen Teil seines Knochenmarks gespendet hätte. „Ich habe dem Kleinen das Leben gerettet, das ist klar“, sagt Scharfe ernst.
Der Mann aus dem Harz und der kleine Junge aus Texas sind so etwas wie genetische Zwillinge. Und wenn das nicht so wäre und wenn Scharfe nicht einem Feuerwehrmann aus Hohegeiß hätte helfen wollen, dann würde Riley in diesem Jahr nicht eingeschult werden, sondern tot sein.
Als Riley noch ein Baby war, war sein Immunsystem durch die Krankheit HLH schwer geschädigt
Als Riley ein Baby war, fanden die Ärzte bei ihm die seltene Krankheit Hämophagozytische Lymphohistiozytose (HLH). Sein Immunsystem war komplett aus dem Gleichgewicht geraten. Während es bei einem gesunden Menschen nach einer Infektion wieder die Waffen einpacke, greife es bei HLH-Patienten das eigene Knochenmark an, sagt Dieter Körholz, Chefarzt der Pädiatrischen Hämatologie und Onkologie am Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin des Uniklinikums Gießen und Marburg.
„Das wiederum erhöht das Risiko, an einer schweren Infektion zu erkranken“, so der Medizin-Professor. „Es tritt eine paradoxe Situation auf, die darin besteht, dass Patienten eine schwere Infektion durch eine Überreaktion des Immunsystems erleiden, obwohl das Immunsystem normalerweise Infektionen bekämpfen soll.“
Die einzige Heilungsmöglichkeit der Krankheit, die meist durch defekte Gene entsteht: Der Patient bekommt ein neues, intaktes Immunsystem – durch eine Knochenmark-Transplantation, so Körholz.
Mario Scharfe, aufgewachsen in Benneckenstein im Harz, ließ sich vor zehn Jahren typisieren
Mario Scharfe wuchs im Oberharz-Örtchen Benneckenstein auf. Dort arbeitete er auch in der freiwilligen Feuerwehr mit. Deshalb war es für ihn keine Frage, dass er sich vor etwa zehn Jahren typisieren ließ, als ein Feuerwehrmann im Nachbarort Hohegeiß an Leukämie erkrankte und einen Stammzellspender suchte.
„Ihm konnte geholfen werden“, erinnert sich Scharfe. „Der Spender war aber keiner von uns.“ Für Scharfe war damit das Ganze erst einmal erledigt. Er konnte nicht ahnen, dass er einen Jungen in Texas, der noch gar nicht geboren war, durch seine Typisierung heilen würde.
Etwa drei Jahre später erhält er von der Deutschen Knochenmarkspenderdatei, die heute nur noch DKMS heißt, ein Einschreiben. Darin: ein paar Entnahmeröhrchen und die Aufforderung, sich bei einem Arzt vorzustellen, der eine Blutprobe nimmt. „Ich kam als Spender infrage“, sagt Scharfe.
Kurz nach der Blutuntersuchung bekommt er einen Anruf der Cellex Gesellschaft für Zellgewinnung. Es seien weitere Untersuchungen nötig, hieß es. Scharfe fährt in eine spezialisierte Kölner Klinik.
„Mein Onkel war an Krebs gestorben und meine Mutter gerade an Krebs erkrankt, für mich stand fest, dass ich helfen würde“, sagt Mario Scharfe
Hat er vor einer Knochenmarkentnahme Bedenken, Angst? „Mein Onkel war an Krebs gestorben und meine Mutter gerade an Krebs erkrankt, für mich stand fest, dass ich helfen würde“, sagt Mario Scharfe. „Außerdem hatte ich mich belesen:
Eine Knochenmarkspende hat nichts mit dem Rückenmark zu tun.“ Man könne durch den Eingriff natürlich nicht querschnittsgelähmt werden. Es gibt immer noch Menschen, die diesen Unterschied nicht kennen.
Jetzt wird klar: Scharfe hat die seltenen genetischen Merkmale, die ihn zum Spender qualifizieren. Am 1. August 2013 werden ihm in Köln unter Vollnarkose 800 Milliliter Knochenmark entnommen. Dazu wird eine Spritze durch den Beckenkamm ins Becken eingeführt – „etwa an der Stelle, wo manchen Frauen ein Arschgeweih haben“, sagt Scharfe.
„Da musste ich schon mal schlucken – wenn du weißt, dass du so einem kleinen Würmchen helfen kannst“
Nebenwirkungen? „Du hast zwei Tage Schmerzen, als wenn du auf den Hintern gefallen wärst.“ Was wusste Scharfe damals über den Empfänger? „Mir wurde gesagt, es sei ein sechs Monate altes Kind in den USA“, erinnert er sich. „Da musste ich schon mal schlucken – wenn du weißt, dass du so einem kleinen Würmchen helfen kannst.“
„Jeder, der sich bei uns typisieren lässt, kann irgendwann seinen genetischen Zwilling finden“, sagt DKMS-Sprecherin Julia Runge. „Wer sich nicht registrieren lässt, kann auch nicht helfen.“ Lässt man die Landeshauptstadt Magdeburg heraus, gibt es nirgendwo in Sachsen-Anhalt so viele Stammzellspender wie im Landkreis Harz: 84. Zum Vergleich: In Mansfeld-Südharz sind es nur rund 30, in Halle 79. Insgesamt haben sich fast 10.000 Menschen im Harz bei der DKMS registrieren lassen. In Magdeburg und Halle nur ein paar Hundert mehr.
„Man kann durch ein Stäbchen im Mund Leben retten“, sagt Knochenmark-Spender Mario Scharfe
Dabei ist die Typisierung so einfach: Set bei der DKMS anfordern, mitgeliefertes Wattestäbchen in den Mund nehmen, Probe zurückschicken, fertig. „Man kann durch ein Stäbchen im Mund Leben retten“, sagt Scharfe. Bei kranken Erwachsenen steigen die Überlebenschancen durch eine Stammzellspende auf etwa 50 Prozent, sagt Julia Runge von der DKMS, bei Kindern noch etwas mehr.
Auf der Facebook-Seite „Prayers vor Riley“ (deutsch: „Gebete für Riley“) berichten die Eltern über seine Fortschritte beim Gesundwerden. Die alten Fotos zeigen einen aufgedunsenen Säugling mit Nasensonde. Die letzten Einträge stammen von 2016.
Auf ihnen ist ein hübscher blonder Junge zu sehen, der völlig gesund aussieht. Über Facebook schreibt sich auch Mario Scharfe mit Rileys Familie. Nach der vorgeschriebenen zweijährigen Sperre nach der Spende hatten beide Seiten der Kontaktaufnahme zugestimmt. „Die Eltern waren total emotional“, sagt Scharfe. „Sie schrieben immer wieder: ,Gott schütze dich!‘“
Vor acht Wochen meldete sich die Tante von Rileys Vater: „Komm vorbei, wir bezahlen das“
Gerne hätte Scharfe Riley getroffen. „Für mich war das ein Traum“, sagt er. Als Maschinenführer beim Schreibgerätehersteller Schneider in Wernigerode verdiene er jedoch nicht genug für solch eine große Reise. Vor acht Wochen schreibt ihm dann aber Tante Mana, die Tante von Rileys Vater: „Komm vorbei, wir bezahlen das.“
Er schläft eine Nacht darüber, dann weiß er: Ja, ich fahre nach Amerika. Mit Tante Manas Kreditkartendaten bucht Scharfe im Reisebüro für 1.400 Euro den Flug nach Dallas. Wohnen wird er bei der Tante. Für Riley und seine Eltern wird es eine Überraschung. Sie wissen nicht, dass der Lebensretter aus Deutschland kommt.
Für Riley und seine Eltern wird der Besuch des Knochenmark-Spenders aus Deutschland eine Überraschung
Je näher der Tag kommt, desto aufgeregter werde er, sagt Mario Scharfe. „Ich weiß nicht, ob Riley weiß, dass er ohne mich nicht leben würde.“ Sein Vater habe ihm geschrieben: „Du bist nicht sein Daddy, aber du kannst dich wie sein Daddy fühlen.“
Mario Scharfe wird am 9. August in Texas seinen 34. Geburtstag feiern. Die Geschenke bekommt aber Riley: einen Schneider-Füller zum Schulanfang mit beiden eingravierten Namen – und ein Leben ohne Hämophagozytische Lymphohistiozytose. (mz)