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Zwischen Brett und Brüssel Zwischen Brett und Brüssel: Lettische Ministerin spielt regelmäßig Schach in Zörbig

Von Julius Lukas 18.11.2018, 13:00
Höchste Konzentration: 101 Mal spielte Großmeisterin Dana Reizniece-Ozola bereits für die SG 1871 Löberitz
Höchste Konzentration: 101 Mal spielte Großmeisterin Dana Reizniece-Ozola bereits für die SG 1871 Löberitz Konrad Reiß

Zörbig - Der Triumph kam unerwartet. So unerwartet, dass schnell von einer Sensation die Rede war. 31 Züge sind bei der Schacholympiade im aserbaidschanischen Baku gespielt, da wagt Dana Reizniece-Ozola den Angriff. Die Lettin geht über den Königsflügel in die Offensive - und die Attacke zeigt Wirkung. Es dauert noch 20 Züge, bis der Kampf am Brett gewonnen ist. Ihre Gegnerin ist keine geringere als die Chinesin Hou Yifan - die amtierende Schach-Weltmeisterin. Es ist ein Sieg, als würde der Fußball-Drittligist Hallescher FC den Champions-League-Gewinner Real Madrid mit 3:0 vom Platz fegen.

Die Sensation euphorisiert Reizniece-Ozola. Sie will weiter beim Turnier spielen, weiter ihrem Team, der lettischen Nationalmannschaft, helfen. Und um das zu tun, sagt sie sogar einen EU-Gipfel ab, zu dem sie eigentlich eingeladen war. Dana Reizniece-Ozola ist nämlich nicht nur Schachgroßmeisterin und Kapitänin des Frauen-Nationalteams. Sie ist auch Finanzministerin Lettlands. Der Mittelpunkt ihrer Schachwelt liegt aber im Herzen Sachsen-Anhalts.

Deutsche Schachhauptstadt Zörbig

Zwei Jahre sind seit dem Sieg über die Chinesin vergangen. Reizniece-Ozola sitzt an einem Samstagvormittag Mitte November auf einem Biedermeiersessel im Wohnzimmer von Familie Reiß. Deren Reihenhaus mit der dunkelgrauen Fassade und den rosa Blumen vor der Tür steht in Zörbig (Anhalt-Bitterfeld). Die Finanzministerin aus dem Baltikum ist für zwei Spiele der ersten Mannschaft angereist: Oberliga, dritthöchste Spielklasse. „In der Saison von Oktober bis Mai bin ich etwa ein bis zweimal im Monat hier“, erzählt sie. „Zörbig ist für mich die Schachhauptstadt Deutschlands.“

Seit 15 Jahren spielt die Lettin für die Schachgemeinschaft 1871 Löberitz, einen der ältesten Schachvereine Deutschlands. In einem Dorf bei Zörbig hat er sein Quartier. Konrad Reiß, der Hausherr, war lange Präsident des Vereins. Viele Fäden laufen noch immer bei ihm zusammen.

Erst Freitagnacht ist Reizniece-Ozola aus Riga, der Hauptstadt Lettlands, eingeflogen. Konrad Reiß hat sie vom Flughafen in Berlin abgeholt - ohne viel Pomp, so wie eigentlich immer. Dabei war die vorangegangene Woche für die Mutter von vier Kindern eine sehr bewegte. „Am Dienstag haben wir im Parlament den Eid geschworen“, erzählt die 37-Jährige. In Lettland wurde Anfang Oktober gewählt.

Das Bündnis der Grünen und Bauern, für das Reizniece-Ozola antritt, musste eine herbe Niederlage einstecken - so wie alle drei Regierungsparteien. „Es war ein populistisch geführter Wahlkampf, in dem es hauptsächlich um neue Gesichter in den Ämtern ging“, meint die lettische Politikerin. Großer Gewinner der Wahl war die erst 2016 gegründete Partei eines ehemaligen Schauspielers. Reizniece-Ozola schaffte es trotzdem in den Saeima, das lettische Parlament - bereits zum vierten Mal in Folge.

„Schach ist wie Meditation“

Doch das ist in Zörbig, im Reihenhaus und der ländlichen Idylle, weit weg. Hier ist die Politikerin, die Wahlkämpferin und Finanzministerin, die in Brüssel und überall in Europa unterwegs ist, nur „Dana“ - so zumindest stellt sie sich zur Begrüßung vor. Angesprochen auf die Absage des EU-Gipfels zugunsten der Schacholympiade verdreht Reizniece-Ozola kurz die Augen - und lacht dann ein jugendhaftes Lachen: „Das war eines von so vielen Treffen.“ Außerdem habe sie damals Urlaub gehabt. Sie nehme sich immer Urlaub für Turniere. „Wenn andere in der Sonne baden oder durch die Welt reisen, gehe ich eben auf Schach-Events.“

Das Spiel der Figuren, dessen Partien oft stundenlang dauern und bei denen auf dem Brett wenig, im Kopf aber viel passiert - dieser Denksport also, ist für die Lettin ein Mittel, der Politik zu entfliehen. „Für mich ist Schach spielen wie Meditation - die Zeit, in der ich meinen Kopf von der Politik reinige“, sagt sie.

König und Dame traten in Dana Reizniece-Ozolas Leben, als sie acht Jahre alt war. „Damals kam ein Trainer zu uns in die Klasse und fragte, wer Schach spielen will.“ Obwohl sie nicht gewusst habe, wie das funktioniert, meldete sie sich einfach. „In den ersten Trainingsstunden gewann ich alle Spiele.“ Der Wettkampfgedanke, auch gewinnen zu können - das habe sie fasziniert. Sie blieb beim Schach, holte Titel und bereiste die Welt. Anfang der 90er Jahre, als Lettland gerade von der Sowjetunion unabhängig geworden war, sei das etwas Exotisches gewesen.

Reizniece-Ozola: „Durch Schach habe ich die Welt gesehen“

Ihr erster Wettkampf im Ausland führt sie 1991 nach Polen. „Wir sind mit einem sehr alten Auto gefahren“, erinnert sich Reizniece-Ozola. Oft blieb es auf der Strecke stehen. „Damit es weiter ging, mussten wir es anschieben.“ Im Gepäck hatten sie damals nicht nur ihre Figuren, sondern auch Dosenfisch. „Den haben unsere Trainer auf dem Markt verkauft, während wir Schach spielten.“ Das sei ein Weg gewesen, um die Reise zu finanzieren. Im folgenden Jahr fuhren sie erstmals nach Deutschland. „Von dort nahmen wir die Plastiktüten aus Einkaufsmärkten als Souvenir für unsere Familie und Nachbarn mit - das war etwas, was wir in Lettland nicht hatten.“

Viele weitere Reisen folgten. Und die Touren durch die Welt brachten Reizniece-Ozola ihrer Heimat näher. „Durch Schach habe ich die Welt gesehen“, sagt die 37-Jährige. Das sei auch ein Grund gewesen, weswegen sie nie aus Lettland wegging. Auch in schlechten Zeiten nicht, als viele junge Menschen das Land verließen. 2007 zum Beispiel, als die Finanzkrise den baltischen Staat hart erwischte. Der Währungsfonds musste das zwei Millionen Einwohner-Land damals mit sieben Milliarden Euro unterstützen. Die Regierung kürzte daraufhin ihre Ausgaben. Viele Einwohner verloren ihren Job. Die Gehälter sanken um 40 Prozent. Ein radikaler Kurs, der jedoch heilsam war. Heute gilt Lettland als finanzpolitisches Musterbeispiel in Europa. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs im vergangenen Jahr um 4,5 Prozent.

Es ist eine Entwicklung, an der auch Reizniece-Ozola mitgewirkt hat. Nach dem Studium leitet sie in der lettischen Ostsee-Stadt Ventspils einen Technologiepark. Ihr Engagement fällt schnell auch den lokalen Politikern auf. Sie überzeugen die junge Frau, für einen Sitz im Parlament zu kandidieren. 2010 wird sie erstmals in den Saeima gewählt. Vier Jahre später wird sie Wirtschaftsministerin. 2016 dann übernimmt sie das Finanz-Ressort

Bei ihrer politischen Karriere helfen Reizniece-Ozola immer wieder der Erfahrungen aus der Schachwelt. „Es sind beides strategische Spiele“, sagt sie. Deswegen sei die Fähigkeit, das ganze Spielfeld immer im Blick zu haben, sehr wichtig. Nur so könne man auch vorausplanen. „Und man versteht, dass immer ein Gegner da ist.“ Letztlich sei Schach ja auch eine Art Kriegsspiel. Oder: Der weniger blutige Weg, Konflikte zu lösen. „Das ist eine Definition von Schach, die ja auch zur Politik passt“, sagt die Ministerin.

Fünf Töchter, alle spielen Schach

2001 wird Reizniece-Ozola Großmeisterin, ein Titel, den man sein Leben lang behält. Es ist auch das Jahr, in dem sie erstmals von der SG Löberitz hört. Bei einem Turnier im bayerischen Passau wird die damalige Studentin angesprochen, ob sie nicht für den Verein aus Sachsen-Anhalt spielen möchte. „Ich wusste nicht einmal, wo das liegt“, erinnert sie sich. Doch sie sagt zu - auch, weil das Figurenziehen in Deutschland lukrativ ist. „Mit einer Woche Schach verdiente ich damals so viel wie ein Lehrer in Lettland in einem Jahr.“

Es dauerte aber noch über ein Jahr, bis die Löberitzer sich meldeten. Im Januar 2003 sitzt Reizniece-Ozola erstmals für den Traditionsverein am Brett - über 100 Einsätze sollen folgen. Bei ihren Reisen zu Spieltagen nach Deutschland kommt sie bei Konrad Reiß unter. Der hat fünf Töchter, die alle Schach spielen. „Mittlerweile bin ich zur sechsten Tochter geworden“, sagt Reizniece-Ozola.

Als sie das sagt, nickt Rebekka Schuster. Sie sitzt am Samstagvormittag im Wohnzimmer in Zörbig neben der Finanzministerin. Sie ist eine der Töchter, mittlerweile verheiratet und auch Mannschaftskapitänin des Frauenteams. „Wenn Dana hier ist“, sagt Schuster, „dann ist sie für mich nicht die Finanzministerin, sondern eine enge Freundin.“ Sie kenne sie nun schon seit ihrer Jugend, sagt die 33-Jährige. „Wir haben viele Höhen und Tiefen durchgemacht und ich bin beeindruckt von dem Weg, den Dana gegangen ist.“

Wie ein roter Faden

Als sie angefangen habe, in Löberitz zu spielen, sei das für sie immer sehr anstrengend gewesen, erzählt Reizniece-Ozola. „Es gibt beim Schach die Angewohnheit, dass man nach den Spielen noch bis in die Nacht zusammensitzt und erzählt.“ Wenn die Schachspieler dann die Bierkrüge in die Hand nahmen, habe sie immer daneben gesessen und probiert, irgendetwas von den Gesprächen mitzubekommen. „Das gelang mir aber nur langsam, weil ich ja kein Wort Deutsch verstand.“

Doch diese Zusammenkünfte und wie Schach beim Verein in Löberitz gelebt wird - das habe ihr von Beginn an gefallen. „Die Welt wandelt sich so sehr, ist so dynamisch, dass man da schnell verloren gehen kann“, sagt die Lettin. „Traditionen können deswegen ein roter Faden durchs Leben sein, ihm einen Rahmen geben.“ Und die Schachtradition sei in Löberitz sehr stark.

Deswegen wolle sie auch weiterhin so oft es geht nach Sachsen-Anhalt reisen. Es ist allerdings wahrscheinlich, dass sie das bald nicht mehr als Finanzministerin von Lettland macht. „Nach der Wahl ist es unwahrscheinlich, dass ich den Posten behalte“, sagt sie. Doch um Politik und Posten ging es in Löberitz für sie ohnehin nie. (mz)

2015 hatte Lettland die EU-Ratspräsidentschaft inne, damals war Dana Reizniece-Ozola Wirtschaftsministerin.
2015 hatte Lettland die EU-Ratspräsidentschaft inne, damals war Dana Reizniece-Ozola Wirtschaftsministerin.
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