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Christoph Werners Roman „Das Haus fernab des Meeres“ Unter Bäumen

Das Leben und was man daraus macht: Der hallesche Puppentheaterchef Christoph Werner weiß, dass die Welt nicht alles ist, was der Zufall ist.

Von Christian Eger 16.03.2023, 17:56
Bäume können Freunde sein:  Im leicht verwilderten Garten einer halleschen Villa muss sie Christoph Werners Romanfigur Paul hegen und pflegen.
Bäume können Freunde sein: Im leicht verwilderten Garten einer halleschen Villa muss sie Christoph Werners Romanfigur Paul hegen und pflegen. (Foto: dpa)

HALLE/MZ - Vergessen hatte er sie nie, nur aus den Augen verloren. Rosa, seine sonderbare Liebe, die Paul losgelassen hatte, bevor er die Stadt für ein Studium verließ. Von dem ist er zurück-, aber nicht heimgekehrt. Zurück nach Halle. In ein kleines klammes Zimmer, aus dem ihn plötzlich die Einsamkeit heraus treibt auf die Wiesen am Fluss. Dort trifft er sie: braune Augen, zarte Grübchen, duftendes Haar. Und Rosa sagt nur das: „Wo warst du denn die ganze Zeit?“

Ein Satz, mit dem die Zeit zurückspringt auf Null. Paul plappert um sein Leben. Eine Übersprungshandlung aus Wörtern. Und es ist sofort klar, dass dieses Umgarnen nicht enden soll und über 239 Romanseiten nicht enden wird. Rosa und Paul werden nicht voneinander lassen.

Freundschaft aus Unglück?

Sie und er und er. Denn neben Paul, dem ostdeutschen Chemieanlagenbauer, der ein Schriftsteller sein will, gibt es noch einen zweiten Mann, der Rosas Leben in diesem Sommer des Jahres 1999 lenkt: Hagen, der Westler, rund 35 Jahre älter als Paul und Rosa. Ein Mann mit Geld und Weltläufigkeit. In dessen Villa am Fluss lebt die Künstlerin Rosa mit ihrer einjährigen Tochter Marie.

Hagen und Rosa und Paul, das sind die drei Personen, mit denen Christoph Werner seinen neuen Roman „Das Haus fernab des Meeres“ zum Summen, ja stellenweise zum Glühen bringt. Ein Roman der unerhörten Wendungen, die aber sachlich, sozial und – vor allem – seelisch immer plausibel bleiben. Ein Roman, der Spannung erzeugt. So sehr, dass der Leser versucht ist, Zeilen zu überspringen, um zu erfahren, wohin hier die Reise geht.

Eine wilde Fahrt, die aber auch viel Ruhe in sich trägt. Denn bei aller Turbulenz ist der Roman des 59-jährigen Chefs des halleschen Puppentheaters keine Erzählung, die zum Selbstzweck auf Action setzt, sondern ein Buch, das immer genauer um die Frage kreist: Wie ist es zu schaffen, nicht nur irgendein, sondern tatsächlich das eigene Leben zu führen?

„Gleiches Unglück macht Freundschaft“, hatte Pauls Großmutter einmal behauptet. Ein Satz, der im Roman des öfteren zitiert wird. Ein Satz, der sich verstehen lässt. Aber stimmt er denn? Ist das, was da Freundschaft heißt, nicht eher Komplizenschaft, Gemeinschaft auf Zeit?

Ballons über der Ägäis

Vom Unglück haben Werners Hauptfiguren mehr als genug. Hagen verlor seine Mutter 1945 auf der mörderischen Flucht über die zugefrorene Ostsee von Ostpreußen nach Westen. Rosa verlor 1977 ihre Mutter bei einer versuchten Flucht aus der DDR in Paddelbooten über die Ostsee: Die Mutter kam durch nach Westen, der Vater in den DDR-Knast und Rosa selbst zu knallharten SED-Großeltern. Paul verlor seinen Bruder Jonas um 1980 bei einem Segelunfall auf der Müritz. Seitdem wird Paul von Panikattacken heimgesucht.

Alles ein bisschen dicke? Nein, denn Werner schafft es, das Ungeheure in Balance zu halten. Nichts drängt hier nach vorne, alles bleibt im Spiel – und lässt noch Raum für Spielereien. Schilderungen von Alltag, Orten und Menschen. Die griechische Insel Hydra taucht auf, eine lustige Jagd nach Heliumballons auf der Ägäis, die Stadt Athen. Selbstverständlich Halle, aber ohne sich folkloristisch aufzudrängen. Hagens Villa in Flussnähe, wo die drei Personen aufeinander zu leben. Anbei ein großer Garten, in dem Paul sein Geld verdient, indem er für Hagen alte Bäume beschneidet oder fällt. Ich-Arbeit unter Bäumen. Das wissen wir seit Voltaires „Candide“: Du musst dein Leben wie einen Garten bestellen.

Christoph Werner ist ein robuster Erzähler. Kein Schönschreiber, kein Poetisierer, eher ein Lakoniker, stets auf den Punkt – oder gern umgangssprachlich auf die Zwölf. Seinen Ich-Erzähler Paul lässt er über sein Schreiben sagen: „Mein Stil war frei von Eitelkeiten, das gefiel mir, aber genau deshalb lag der ganze Fokus auf der Geschichte, und genau das war das Problem, denn alle meine Geschichten hatten kein Ende, kein Ziel, keine Architektur.“ Letzteres trifft auf Werners Roman nicht zu.

Wer ist Maries Vater? Was hat Hagen mit Rosa zu tun? Und was Rosa mit Paul? Fragen, die manchmal einen Krimi-Drive auslösen. Immer aber auch eine lebensphilosophische Drift. Denn sowohl Rosa als auch Paul zählen sich – anders als Hagen – zu den Zukurzgekommenen, von den ungünstigen Umständen ihres Lebens hin und her geworfen. Der Zufall hat ihnen ungut mitgespielt, weshalb sie vom Zufall zu hoch und zu schlecht denken. Dass wir es nicht ertragen, dass unser Leben vom Zufall regiert wird, räsoniert Paul. „Aber der Zufall ist überall, er ist launisch, einfallsreich, erbarmungslos – er ist allmächtig.“

Alles, was der Zufall ist

Hier käme der Osten ins Spiel. Die SED-Diktatur vor 1989, der Nachwende-Kapitalismus danach. Aber Christoph Werner ist kein politischer Erzähler. Ihn interessieren die seelischen, nicht die politischen Signaturen seiner Figuren. Er gibt auch nicht der Versuchung nach, hier erinnerungsselig oder zeitgeistträchtig einen „Osten“ zu beschwören.

Bis zur letzten Zeile bleibt der Leser am Ball, den Christoph Werner – wie an einer Stelle Paul – gern „mit dem Fuß in alle Himmelsrichtungen“ schießt. Am Ende findet der Roman sein Ziel. Und Hagens hallesche Villa ihren Namen: „Das Haus fernab des Meeres“.

Das meint nicht weniger als das Gehäuse des Lebens selbst, die Existenz fernab des Unglücks, einer Vergangenheit, die vor allem das ist: vergangen, vorbei. Denn die Welt ist nicht durchweg, was der Zufall, sondern immer auch, was der Fall ist: Das, was der Einzelne daraus macht.

Christoph Werner: Das Haus fernab des Meeres. Mitteldeutscher Verlag, 239 Seiten, 24 Euro. Buchpremiere am 5. April, 19 Uhr, im Literaturhaus Halle. Über das Buch diskutieren im „Literarischen Quartett“: Kirsten Haß (Bundeskulturstiftung), Anett Krause (Freiraumbüro Halle), Jörg Schieke (MDR) und Alexander Suckel (Literaturhaus).