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Das Schweigen brechen Autorenlesung in Zeitz gedenkt den jüdischen Opfern der Novemberpogrome

Anlässlich des Jahrestages der Reichspogromnacht widmete sich eine Autorenlesung in der Stiftsbibliothek dem Schicksal von Opfern des NS-Regimes.

Von Silvia Kücken 10.11.2021, 15:30
Barbara Stellbrink-Kesy liest aus ihrem Buch vor.
Barbara Stellbrink-Kesy liest aus ihrem Buch vor. Foto: Silvia Kücken

Zeitz/MZ - Die letzte Nachricht seiner Familie erhielt er 1942, kurz bevor sie ihre Reise antrat. Aus dem Exil schickte er seinen Angehörigen noch ein Päckchen nach Theresienstadt. Es kam nie an. Fred Herzberg konnte bis zu seinem Lebensende nur selten über das Martyrium seiner Verwandten reden - 14 Familienmitglieder hat er durch den Holocaust verloren.

Autorenlesung in der Stiftsbibliothek widmet sich dem Schicksal von Opfern des NS-Regimes

Die Lesung „Kokons des Schweigens. Zwei Detmolder Familien in der NS-Zeit“, die im Rahmen der Landesliteraturtage gehalten wurde, wollte für einen Abend diesen Kokon durchdringen. Das Schweigen beenden, Worte finden für das Unaussprechliche, jenen eine Stimme geben, die ihrer beraubt wurden während der NS-Diktatur. Am Montag, dem Vorabend der Reichspogromnacht, lasen die Detmolder Autorinnen Barbara Stellbrink-Kesy und Gudrun Mitschke-Buchholz in der Zeitzer Stiftsbibliothek dazu Auszüge aus ihren Büchern.

Da ist zum einen die Geschichte der jüdischen Familie Herzberg, die Mitschke-Buchholz in ihrem 2013 erschienen Buch „Lebenslängliche Reise“ niedergeschrieben hat. Nur ein Familienmitglied überlebte: Fred Herzberg. Nie wieder wollte er deutschen Boden betreten.

Anhand von Briefen und Postkarten rekonstruierte die Historikerin Mitschke-Buchholz seine Flucht aus Deutschland. 1939 floh er zunächst nach England, Afrika und landete dann zuletzt in Amerika. Seine Verwandten sollten ihm nachfolgen - die Ereignisse überschlugen sich jedoch und ihr Leben endete in den Konzentrationslagern Theresienstadt und Auschwitz.

Vor dem ehemaligen jüdischen Betsaal in der Zeitzer Judenstraße haben am Dienstagabend Bürger, Vertreter des Stadtrates und der Stadtverwaltung der Pogromnacht am 9. November 1938 gedacht. Eingeladen zu der Gedenkveranstaltung unter der Überschrift „Gegen das Vergessen“  hatten die Initiative Stolpersteine Zeitz und die christlichen Gemeinden der Stadt.
Vor dem ehemaligen jüdischen Betsaal in der Zeitzer Judenstraße haben am Dienstagabend Bürger, Vertreter des Stadtrates und der Stadtverwaltung der Pogromnacht am 9. November 1938 gedacht. Eingeladen zu der Gedenkveranstaltung unter der Überschrift „Gegen das Vergessen“ hatten die Initiative Stolpersteine Zeitz und die christlichen Gemeinden der Stadt.
Foto: Torsten Gerbank

Briefe einer Großtante werden zu einem Roman

Ein Schicksal, welches ebenfalls nach Jahrzehnten des Schweigens und Vergessens erstmals wieder in Worte gekleidet wurde, ist das von Irmgard Heiss. Ihre Großnichte Barbara Stellbrink-Kesy fand, dass es Zeit wurde ihre Geschichte zu erzählen, nachdem sie Briefe ihrer Tante im Detmolder Elternhaus gefunden hatte. Sie schrieb den Roman „Unerhörte Geschichte“, der vergangenes Jahr erschien. Heiss, eine freigeistige Frau, erhielt die Diagnose „Psychopathin“, wurde als „Minderwertige“ ausgegrenzt und durchlebte bis zu ihrem Tod einen langen Leidensweg in verschiedenen Heilanstalten des Dritten Reiches.

„Ich habe versucht nachzuempfinden, was ihr widerfahren ist“, erklärt Steilbrink-Kesy, wie sie vorgegangen ist. Als roten Faden habe sie einen Dialog mit ihrer Tante verfasst. Für die Autorin ist diese Geschichte jedoch noch nicht zu Ende erzählt. Sie plane weitere Romane. „Das Thema hat mich wirklich gepackt.“ Sie wundere sich deshalb auch, dass selbst jetzt noch einige ihrer Familienmitglieder nicht über die Großtante reden. Vielleicht glauben sie doch der Diagnose, vermutet Stellbrink-Kesy.

Das Schweigen zu brechen und sich mit vergangenen traumatischen Ereignissen beschäftigen

So sei es gerade das Schweigen ihrer Familie gewesen, das ihr Interesse geweckt habe. Mitschke-Buchholz pflichtet ihr bei, dass spätere Generationen oft versuchen das Schweigen zu brechen und sich mit vergangenen traumatischen Ereignissen beschäftigen. So auch im Fall der Herzberg-Familie.

Herzberg kehrte nie wieder in das Land der Täter zurück - seine in Amerika aufgewachsene Enkelin ist jedoch vor einiger Zeit nach Detmold gezogen. Und sagt, dass sie sich in der niedersächsischen Stadt besonders zuhause fühle.„Unerhörte Geschichte: Frei - aber verpönt“ von Barbara Stellbrink-Kesy, ISBN-10: 3945130166 , „Lebenslängliche Reise“ von Gudrun Mitschke-Buchholz, ISBN-10: 3895349283.