Todesmarsch durch Ballenstedt im April 1945 Todesmarsch durch Ballenstedt im April 1945: "Wir waren ohnmächtig"

Ballenstedt - Elf Jahre alt ist Joachim Gebhardt, als er im April 1945 Häftlinge aus dem Konzentrationslager Langenstein-Zwieberge auf dem Todesmarsch durch Ballenstedt kommen sieht. Die Bilder hat er bis heute vor Augen, und er vergisst nie „diese grausame Ohnmächtigkeit, die wir erlebt haben, als wir diese Menschen gesehen haben - Skelette, mit Haut überzogen, hohläugig - und diesen Ackerwagen mit geschlagenen Häftlingen, von denen wir nicht wussten, ob sie tot waren“.
Bleierne Stille über dem Ort
Mit seinen acht und zwölf Jahre alten Freunden hatte der Elfjährige in jenem April 1945 viel Zeit draußen verbracht. Täglich setzten die Jungen sich auf die Treppenstufen am Eingang zum Saal des ehemaligen Gasthauses „Goldener Löwe“ an der Hoymer Straße und beobachteten Fahrzeuge, die dann und wann vorbeikamen. „Hier konnten wir die gesamte Straße überblicken.“ An jenem 10. oder 11. April lag eine bleierne Stille über dem Ort. Plötzlich sahen die Jungen eine aus Richtung Radisleben/Hoym kommende, sich langsam bewegende graue Masse. „Erst als diese näher kam, haben wir entdeckt, dass dies ein Häftlingszug war“, erinnert sich der heute 81-Jährige. Voran rollte ein von Menschen gezogener, hoher Ackerwagen, darauf eine Anhäufung, die die Kinder aus der Entfernung nicht deuten konnten. Näher und näher kam der Zug. „Es war unheimlich“, erinnert sich Joachim Gebhardt. Als sich der Zug jenem Bereich näherte, wo die verrohrte Getel wieder zu einem offenen Graben-Wasserlauf wurde, erkannten die Jungen „grausam abgemagerte, hohläugige Männer, Knochengerippe mit schlaffer Haut“, beschreibt der Ballenstedter. Manche trugen blau-weiß gestreifte Hosen und Jacken, manche nur Hosen. Plötzlich hielt der Zug an, der von zwei, drei SA-uniformierten Bewachern und einem Schäferhund begleitet wurde. „Wir hörten eine röchelnde Stimme: ,Wasser, Wasser!’, dann stürzte einer der Gefangenen in Richtung Getel. Einer der Schergen stürzte sofort hinterher und schlug ihn mit einem Gummiknüppel zusammen. Zwei Bewacher packten den Häftling und warfen ihn mit Schwung auf den Wagen. Wir erkannten nun, dass der hohe Ackerwagen mit Menschenbündeln gefüllt war.“
Während der Zug langsam an die Kinder herankam, saßen diese schweigsam auf den Stufen. „Wir waren ohnmächtig und erschüttert.“ Die Häftlinge gingen weiter Richtung Marienstraße; deren Bewacher beachteten die Jungen nicht. „An der Kreuzung scherte wieder ein Häftling aus und hob etwas auf. Wir dachten, es sei etwas zu essen. Wieder sprang ein Gummiknüppelmann hin, schlug dem Häftling das Aufgehobene aus den Händen und schlug ihn dann nieder. Erneut wurde ein zusammengeschlagener Körper zu den anderen auf den Wagen geworfen.“ Später sahen die Jungen dann, dass das, wonach sich der Häftling gebückt hatte, ein Stück Sohle, ein schwarzer Gummiabsatz war.
„Wasser, Wasser!“
Der Zug war in der Marienstraße angekommen, wo der Freund wohnte. Seine Mutter stand vor der Tür. Wieder war eine Stimme „Wasser, Wasser!“ zu hören. In den Hausfluren, wo sich die Wasserhähne befanden, standen damals Bänke, darauf Eimer und ein Marmeladenglas zum Schöpfen. Die Mutter des Freundes lief ins Haus, kam mit einem mit Wasser gefüllten Glas wieder heraus und wollte es dem Häftling reichen. „Ganz schnell lief einer der Bewacher hin und schlug ihr das Glas mit dem Gummiknüppel aus der Hand.“
Die Mütter holten ihre Söhne zurück in die Häuser. Später hörten die Jungen dann, dass der Häftlingszug an jenem Tag nicht weitergezogen sei. Die Häftlinge hätten die Nacht am Unterteich - einer Wiese, entstanden auf einer zugeschütteten Teichfläche, auf der später das Kraftverkehr-Gelände entstand - verbracht und hätten dieses Nachtlager am nächsten Morgen in unbekannter Richtung verlassen.
Gebhardt hat seine Erinnerungen aufgeschrieben. Er hat eine Karte gezeichnet, die zeigt, wie sich der Todesmarsch-Zug, der seiner Meinung nach von den Steinbergen kam, durch Ballenstedt bewegte, wo sich der „Goldene Löwe“ befand und wo die Häftlinge die Nacht verbrachten. Für Hans Richter von der „Interessengemeinschaft Todesmarsch“ sind das wertvolle Bausteine im Bemühen, Zeitzeugnisse zusammenzutragen und die Erinnerung an die ermordeten Häftlinge zu bewahren.


