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Ein diskutiertes Privileg Rechte für Geimpfte und Genesene werden auch im Altkreis Köthen kritisch hinterfragt

Von Sylke Hermann 12.05.2021, 10:30
Für Geimpfte und Genesene werden die Corona-Regeln gelockert. Das Vorgehen ist umstritten.
Für Geimpfte und Genesene werden die Corona-Regeln gelockert. Das Vorgehen ist umstritten. Foto: dpa

Köthen - „Ich bin hin- und hergerissen - und wirklich absolut zwiegespalten.“ Sie fragt sich: „Werde ich jetzt belohnt, weil ich diesen Mist hatte? Bin ich plötzlich privilegiert, weil ich krank war und das Ganze zum Glück überstanden habe?“ Diese „moralische Gratwanderung“, wie sie sagt, beschäftigt die junge Frau.

Die Debatte um mehr Rechte für Geimpfte und Genesene beherrsche seit Tagen ihre Gedanken, genauso die Gespräche mit Freunden, Familie, Kollegen. Sie merkt: Es gibt nicht nur schwarz oder weiß. Es gibt eine Menge dazwischen. „Aber die Leute sind so sehr in den Extremen gefangen.“ Aus diesem Grund entschließt sie sich, ihren Namen nicht preiszugeben. Sie habe, begründet sie, schon einmal schlechte Erfahrungen gemacht als sie deutlich Stellung gegen Rechts bezieht.

„Welche Vorteile habe ich eigentlich mit dem doppelten Impfschutz und überstandener Krankheit?“

Die junge Köthenerin kann verstehen, „dass die Leute mehr Freiheiten, mehr Rechte, mehr Perspektive wollen“. Was sie nicht verstehen kann: „Die wollen gleich wieder alles. Aber das geht nun mal nicht.“ Und sie fragt sich: „Welche Vorteile habe ich eigentlich mit dem doppelten Impfschutz und überstandener Krankheit? Dass ich ohne Test zum Friseur darf und einkaufen und irgendwann wieder in eine Gaststätte?“ Damit könnte sie umgehen. Das sind für sie keine besonderen Privilegien. Zumal sich dieser vermeintliche Nachteil mit einem negativen Schnelltest-Ergebnis temporär ausgleichen ließe. „Wenn ich allerdings reisen dürfte, fände ich das sehr problematisch. Das würde ich auf keinen Fall machen.“

Claudia Ludwig, die Leiterin des Gesundheitsamtes in Anhalt-Bitterfeld, wirft aktuell einen „eher skeptischen Blick“ auf die Debatte. Es gebe inzwischen etliche vollständig Geimpfte, die erkrankt seien, betont sie. Oftmals handele es sich dabei um eine Mutation, die nachgewiesen wird. Und: „Natürlich sind diese Personen dann infektiös und auch hoch ansteckend.“ Die Impfung schütze nicht zu 100 Prozent. Das würden viele Menschen verdrängen, glaubt sie.

Claudia Ludwig leitet das Gesundheitsamt in Anhalt-Bitterfeld
Claudia Ludwig leitet das Gesundheitsamt in Anhalt-Bitterfeld
(Foto: Ute Nicklisch)

Die Leiterein des Gesundheitsamtes fürchtet eine „Zweiklassengesellschaft“

Dass man nun Geimpften und Genesenen per Gesetz wieder mehr Rechte einräumt, sei „wahrscheinlich ein Abwägungsprozess“, sagt die Amtsleiterin und ist der Auffassung: „Es ist zu früh - und wahnsinnig mutig.“ Zum einen seien noch zu wenige Menschen geimpft, zum anderen wisse man noch immer nicht genug darüber, wie sich das Virus verhalte.

Gerade erlebt der Landkreis die deutliche Verdrängung des klassischen Erregers, während die britische Mutation das Infektionsgeschehen überlagere. „Schlimmstenfalls steigen die Infektionszahlen wieder“, befürchtet Claudia Ludwig. Weil wieder mehr Menschen zusammenkommen. Weil die Menschen sich aller Voraussicht nach mehr in Sicherheit wiegen und leichtsinniger werden, sich eben nicht mehr an Hygieneregeln gebunden fühlen. All das sei im Moment allerdings nicht abzuschätzen. Da es viele Menschen gebe, die noch gar nicht privilegiert sein können, sieht sie durchaus die Gefahr einer „Zweiklassengesellschaft“.

Große Gefahr, dass monatelange Bemühungen zunichte gemacht werden?

Annett Rabe, die Chefin des Pflegezentrums „Fuhneaue“ in Gröbzig, schäumt vor Ärger, wenn sie an die wiedererlangten Rechte für ausgewählte Personengruppen denkt. Weil einige nun glauben, ohne Weiteres - ohne Schnelltest also - Zutritt zum Heim zu erhalten. Dagegen verwehrt sie sich. „Mir ist fast der Kragen geplatzt, als ich das mitbekommen habe.“ Sie sieht die große Gefahr, dass monatelange Bemühungen zunichte gemacht und die Pflegeheime durch diesen Leichtsinn unverschuldet wieder zu Hotspots werden könnten.

Seit November fährt Annett Rabe ein striktes Testkonzept. Keiner kommt ohne Test ins Haus. Ihre Mitarbeiter werden täglich getestet. Das sei zwar „extrem anstrengend, aber auch effektiv“. Sie glaubt: „Nur so haben wir die Chance, das Infektionsgeschehen im Keim zu ersticken.“ Sie mache das nicht, um jemanden zu ärgern, sondern aus Vorsicht. Denn sie hat den Fall, dass ein Besucher im Schnelltest positiv ist, der geimpft gewesen sein soll. Und Ende März, erzählt sie, habe sich eine geimpfte Mitarbeiterin im Außendienst mit dem Corona-Virus infiziert - und zwar mit der englischen Mutation. „Zum Glück hat sie niemanden angesteckt.“

„Es kann mir doch niemand die Garantie geben, dass jemand, der vollständig geimpft oder genesen ist, das Virus nicht weiterträgt“

Spätestens seit diesen Vorfällen hätten bei ihr die Alarmglocken geläutet. „Es kann mir doch niemand die Garantie geben, dass jemand, der vollständig geimpft oder genesen ist, das Virus nicht weiterträgt.“ Für sie als Geschäftsführerin ist entscheidend: „Wir tragen schließlich die Verantwortung.“

„Es ist schon ein zweischneidiges Schwert“, räumt auch Andreas Petri ein. Er ist niedergelassener Allgemeinmediziner mit Praxen in Gröbzig und Görzig und sagt: Man könne bürgerliche Rechte nicht einfach einschränken, wenn der Grund wegfällt, warum man das tut. Auf der anderen Seite sei es gar nicht möglich, so viel Impfstoff zu bestellen, dass jeder geimpft werden kann, der das möchte. Und damit seien die Personen, die noch nicht geschützt sind, automatisch schlechter gestellt. Er bringt vieles aus dieser Debatte aktuell mit dem Wahlkampf in Verbindung, für ihn sei das offensichtlich.

Allgemeinmediziner Andreas Petri rät der Wissenschaft zu vertrauen

Unabhängig von den politischen Aspekten sei aus medizinischer Sicht zu sagen: „Die Welt hat bisher jede Pandemie überstanden. Wir haben ein Virus, das wir jetzt schon besser kennen und einschätzen können.“ Hier, rät Andreas Petri, der Wissenschaft zu vertrauen. Denn es sei „mit empirisch sauberen Methoden“ nachgewiesen, dass immunisierte Personen einer deutlich geringeren Infektionsgefahr ausgesetzt sind und sie das Virus auch weniger stark verbreiten.

Der Arzt spricht in dem Zusammenhang von „sehr deutlichen Ergebnissen“. Gleichwohl betont er: „Es ist alles im Fluss.“ Man könne nie zu 100 Prozent wissen, was richtig ist. „Fakt ist, dass Immunisierte etwas bevorzugt werden bei der Rückerlangung ihrer Freiheitsrechte.“ Doch er ist zuversichtlich, dass es nun schrittweise aus der Pandemie herausgehe. (mz)