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Staatsanwaltschaft fordert acht Monate Bewährung abgelehnt: Warum ein 37-jähriger Köthener nun wegen Bagatelldelikten ins Gefängnis muss

Von Susann Salzmann Aktualisiert: 15.06.2021, 15:48
Hannes B. musste sich vor dem Köthener Amtsgericht verantworten.
Hannes B. musste sich vor dem Köthener Amtsgericht verantworten. (Foto: Nicklisch)

Köthen - Seit rund 20 Jahren kennen sich Richterin Susanne Vogelsang und der angeklagte Hannes B. (Name geändert) bereits. Schon mehrfach verurteilte sie ihn und nun, beim letzten Aufeinandertreffen, verhängte sie gegen den 37-Jährigen eine Gefängnisstrafe wegen Bagatelldelikten. Der Köthener hatte dabei keine Straftaten begangen, für die ein Angeklagter notwendigerweise in den Knast muss.

Doch, was zu viel ist, ist zu viel. Sie habe Hannes B. schon viele Möglichkeiten im Rahmen der Verurteilungen gegeben, indem er etwa durch Bewährung auf freiem Fuß bleiben konnte. In fragwürdiger Manier hatte er diese Chance genutzt. Er beging nämlich weitere Straftaten. Zuletzt fiel er im Sommer und Herbst 2020 durch Diebstahl und Schwarzfahren auf.

Zu Buche schlugen insgesamt vier Schwarzfahrten mit der Deutschen Bahn

Zu Buche schlugen insgesamt vier Schwarzfahrten mit der Deutschen Bahn. Auf den Strecken zwischen Köthen und Magdeburg verzichtete er gleich vier Mal auf ein Ticket. Und um noch zügiger von A nach B zu kommen, benutzte er zweimal sogar den teureren ICE: Dass er durch die fehlenden Tickets im Zeitraum vom 24. Juni bis zum 6. September 2020 insgesamt 37,70 Euro „sparte“, kam den mehrfach vorbestraften Köthener nun teuer zu stehen. Hintergrund ist die kriminelle Vita des Angeklagten. Sie beginnt 1999 und zieht sich über Fahren ohne Fahrerlaubnis, das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Raub bis hin zur Unfallflucht und zum unerlaubten Handel mit Rauschmitteln.

Vor Gericht saß jüngst ein offensichtlich reuiger Angeklagter, der genau einzuordnen vermochte, in welcher brenzligen Lage er sich durch seine Vorgeschichte und die begangenen Taten befand. In sich zusammengesunken und reuig in die Richterinnenaugen blickend, widersprach er der Anklageschrift nicht.

„Ich hatte Probleme und wollte zurück in meine Heimat“

Auch nicht, als die Dessauer Staatsanwaltschaft den zweiten Vorwurf - Diebstahl von drei Flaschen Schnaps im Köthener Edeka im Wert von 32,60 Euro verlas. In seinem Rucksack versteckte er an jenem 15. Oktober 2020 je einmal Baileys, Baccardi und Jim Beam. Mit gebrochener Stimme, einsilbig und leise gestand er. „Sicher war ich das, aber wie das kam, weiß ich nicht“, erklärte Hannes B..

Erst auf scharfe Nachfragen der Vorsitzenden Richterin wurde er genauer. „Ich hatte Probleme und wollte zurück in meine Heimat“, kramte der Angeklagte plötzlich eine Erklärung für das Schwarzfahren hervor.

Sprichwörtlich geflohen aus seinem sozialen Umfeld in Haldensleben. Weg vom Obdachlosenheim, in dem er landete. Weg von kriminellen Weggefährten, an die er im Laufe seiner Lebensjahre geriet. Und eigentlich sollten die Zugfahrten in seine Geburtsstadt auch in einem straffreien Leben enden, beteuerte er. Doch statt in seiner neuen alten Heimat der Kriminalität Adieu zu sagen, beging er in der Bachstadt weitere Straftaten. Unhaltbar für Richterin Vogelsang, denn der Angeklagte hat nicht nur 22 Eintragungen in seinem Bundeszentralregister, sondern stand zu den beiden Tatzeitpunkten auch noch unter mehrfacher Bewährung.

Drogen- und Alkoholsucht belasten das Leben des Angeklagten

Mit einem ernsten Blick zu den Prozessbeteiligten räumte er schließlich auf Nachfrage der Richterin ein, dass er Drogen konsumiere. Immer noch. Mal Marihuana, mal Crystal Meth. Er bejahte ganz offen seine Sucht nach Drogen und Alkohol. Eine neunmonatige Betreuung in einer Entziehungsanstalt habe nicht viel genützt. Er brach die Therapie ab.

Nun scheint er wieder „voll drauf“ zu sein. Das wurde ihm im Gerichtssaal mit einem verstörenden Vergleich selbst bewusst. Immerhin „trinke ich Baileys wie Buttermilch“, gab Hannes B. einen aktuellen Einblick in sein Leben. Ein Leben, von dem der Angeklagte selbst merkte, wie sehr es doch aus den Fugen geriet. Zuletzt landete er in Halberstadt im Obdachlosenheim. Dort wollte „man mich vergiften. Man hat mir Quecksilber in die Cola gemischt“, sagte er und senkte den Kopf, bis es kaum mehr möglich war.

Mit seinem Lebenswandel in den letzten Monaten konnte Hannes B. bei Gericht keine Pluspunkte sammeln

Mit dem Erlebnis konnte Hannes B. höchstens kurz Mitleid erheischen, aber keine Entschuldigung für seine Straftaten liefern. Drogen kaufte er sich nach eigenen Angaben davor und danach. Da sein Existenzminimum dafür nicht reichte, borgte er sich Geld bei der Schwester. Damit wurde ein Teil der Drogen finanziert, sagte er. Dass der 37-Jährige klaute, um sich durch diese Art von Beschaffungskriminalität Zusatz-„Einnahmen“ zu sichern, verneinte er jedoch.

„Woher soll die gute Sozialprognose kommen?“, stellte Richterin Susanne Vogelsang nur eine rhetorische Frage in seine Richtung. Einer guten Sozialprognose bedarf es immer dann, wenn eine Wahl zwischen Knast oder Bewährungsstrafe getroffen werden muss. Mit seinem Lebenswandel in den letzten Monaten konnte Hannes B. bei Gericht aber keine Pluspunkte sammeln. Trotz des Wissens etwa um seine Sucht bemühte er sich nicht selbst um eine Therapie. Erst auf Nachfrage des Gerichts erklärte er sich zu einer stationären Langzeittherapie bereit. Für ein Bewährungsurteil kam das „Ja“ zur Therapie zu spät. Die Ist-Lage des Kötheners sei verheerend. „Sie machen auf mich einen schwer abhängigen und schlechten Eindruck“, meinte Vogelsang zum Beschuldigten.

„Es kann von Vorteil für Sie sein, in Haft zu sein, um von der Sucht und dem Milieu loszukommen“

Sein Verteidiger wollte das Beste - in diesem Fall also eine siebenmonatige Bewährungsstrafe - für seinen Mandanten herausholen. Der Anwalt begründete das mit keinen weiteren Folgetaten. Staatsanwältin und Richterin glaubten nicht so recht daran - schließlich wurde Hannes B. vom Amtsgericht Halberstadt erst im November 2020 zu einer achtmonatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung und nicht einmal vier Monate später vom selben Gericht zu einer weiteren Bewährungsstrafe verurteilt. Für die Richterin unverständliche Urteile. Und bei einer Suche nach dem Warum für das Bewährungsurteil scheiterte es trotz Telefonmarathons mit dem Halberstadter Amtsgericht am Urteil selbst. Das blieb für diesen Tag zumindest verschollen.

Trotz des Prozesshergangs blieb die Vorsitzende Richterin mit ihrem Urteil noch zwei Monate unter dem, was die Staatsanwaltschaft beantragte: acht Monate soll Hannes B. wegen Schwarzfahrens und Klauens hinter Gitter. „Es kann von Vorteil für Sie sein, in Haft zu sein, um von der Sucht und dem Milieu loszukommen“, begründete Vogelsang ihre Entscheidung in einfühlsamer Stimmlage. Noch während der Verhandlung deutete sich an, dass das Verfahren vermutlich vor dem Landgericht landet, weil am Ende keine Bewährung gewährt wurde. „Mit einer Therapie haben Sie vor dem Landgericht bessere Karten“, gab Vogelsang dem Angeklagten einen letzten Tipp. (mz)