Scheibe E in Halle-Neustadt Scheibe E in Halle-Neustadt: Zu Gast im Geister-Hochhaus

Halle (Saale) - Wenn die kleine Stahltür zufliegt, verschwindet jedes Licht aus dem Treppenhaus. „Die musst du mit Kraft zuwerfen“, schallt Andrea Kahés Stimme, als sie ihren Handstrahler anknipst. „Sonst kommen noch Leute her, die hier nicht reingehören.“ Kahés Lichtkegel fällt auf Wände, von denen Farbe platzt. In den oberen Stockwerken flattern Tapetenfahnen im Wind: Willkommen im Inneren des Geister-Hochhauses, willkommen in der Scheibe E.
Lange galten die Neustädter 18-Geschosser unter Anwohnern als Drecklöcher, viele sehen sie immer noch so. Diesen Ruf verdanken die Leerstands-Häuser ihrer Rolle als gigantische Brutstätten für Tausende Tauben. Ein Besuch im Geisterhochhaus ist in diesen Tagen interessanter denn je: Oberbürgermeister Bernd Wiegand verkündete, die Scheiben retten zu wollen. Sind die noch zu retten?
Die Zukunft der Neustädter Hochhaus-Scheiben ist am kommenden Dienstag Thema in der Beigeordneten-Konferenz der Stadtverwaltung. Im öffentlichen Teil wird der aktuelle Sachstand vorgestellt, den der Geschäftsbereich Stadtentwicklung erarbeitet hat. In der vergangenen Woche hatte Oberbürgermeister Bernd Wiegand (parteilos) sich für eine Rettung der vier maroden, leerstehenden Hochhäuser ausgesprochen. Allein Scheibe D ist saniert und in Betrieb.
Würde der Plan in die Tat umgesetzt werden, müssten Millionenbeträge in die Neustadt fließen. Bereits in den vergangenen 15 Jahren wurden für Sanierungen der Neustädter Passage rund neun Millionen Euro verbaut, teilte Baubeigeordneter Uwe Stäglin mit. Für die Sanierung der Scheiben kalkulieren Experten Kosten in Höhe von rund 40 Millionen Euro. Stäglin werde sich in den kommenden drei Monaten um Gespräche mit seriösen Bauinvestoren kümmern, hatte OB Wiegand zuletzt mitgeteilt.
Eine Lösung für die Scheiben habe absolute Priorität für die Stadtverwaltung, so Wiegand. Ihm schwebt in erster Linie die Einrichtung hochwertiger Wohnungen für Familien vor. Noch nie lag die Chance so gut wie jetzt für eine Wiederbelebung der Hochhäuser, heißt es aus der Verwaltung: Die Nachfrage auf dem Baumarkt sei gestiegen, Bauzinsen seien auf einem historischen Tiefstand. Ein Abriss der Häuser, im vergangenen Jahr noch als Lösung gehandelt, ist laut Wiegand vom Tisch.
Die Scheiben-Hochhäuser wurden vor 40 Jahren fertiggestellt. Nach fünfjähriger Bauzeit dienten sie ursprünglich als Wohnheime für Arbeiter der Chemiewerke Buna und Leuna, als Studentenwohnheim und als Gebäude für Fachärzte. Die spezielle Bauweise macht einen Abriss schwierig: Die Scheiben sind als Monolith um einen Kern herum gebaut, lediglich die Außenwände bestehen aus Fertigteilen.
Ein Rundgang durch Scheibe E, das sind unzählige Blicke durch zerbrochenes Glas. 18 Stockwerke können über das Treppenhaus erreicht werden, in jeder Durchgangstür sind die Scheiben gesplittert. Auf den Balkonen: zerbrochene Fenster. „Jahrzehnte des Einbrecher-Vandalismus haben Spuren hinterlassen“, sagt Kahé, die seit August 2013 jede Woche in das Gebäude kommt.
Doch im Bauch des Hochhaus-Riesen tut sich etwas, er wird sauberer. Das hat viel mit Tierschützerin Kahé zu tun, sie macht Etage für Etage taubenfrei, in Absprache mit dem Privat-Eigentümer, einem Leipziger Wohnungsunternehmen. „Wir tauschen die echten Eier gegen Gips-Attrappen aus, so dass sich die Population verkleinert.“
200 Tauben fanden hier einst Unterschlupf im Haus. Gänge und Räume waren gesäumt mit Taubendreck, toten Tieren, Eierschalen. Ihre Nester bauten sie in Waschbecken und zusammengerollten Teppichen, die in den Räumen lagen. Heute sind es wenige Dutzend Tiere, die durch die Fensterscheiben hereinflattern. „Es sind nur noch vier, fünf Stockwerke, in denen Tauben leben“, sagt Kahé. „Vogelfreie Etagen wurden von Räumungskommandos des Eigentümers gesäubert, ausgemistet und dichtgemacht.“ Besenrein sind einige Stockwerke. Zersplittert sind die Scheiben in den Gängen, doch die Scherben sind weggekehrt.
In den Jahrzehnten des Leerstands suchten immer wieder Obdachlose Zuflucht in dem Haus - davon zeugen alte Sessel, Teppichfetzen und Kleiderberge in vereinzelten Räumen in den unteren Stockwerken. „Wenn wir bemerken, dass irgendwo Leute reinkommen, stopfen wir die Löcher sofort“, sagt Kahé. Ja, es gebe mehr Schlupflöcher am Fuße dieses Scheiben-Hochhauses, als sie vermutet hätte. Doch mittlerweile seien diese gesichert.
Ein einziges Mal begegnete sie selbst einem Einbrecher, als sie die Scheibe durch die kleine Stahltür betrat. „Er bemerkte mich nicht. Das war so ein junger Typ, der hier Kabel klauen wollte oder so“, erinnert sich Kahé. Draußen stürmte es, und obwohl sie die Tür laut zuwarf, so wie immer, hatte der Mann sie nicht gehört. Polizisten stellten den Einbrecher, nachdem Kahé geflüchtet war und den Notruf gewählt hatte.
Früher diente Scheibe E als Wohnheim für Hunderte Buna-Arbeiter, nach Jahrzehnten des Leerstands und der Diskussion über den Abriss steht nun die Sanierung und Vermietung der Scheiben-Hochhäuser im Raum. „Das ist durchaus vorstellbar, die Bausubstanz ist nicht die Schlechteste“, sagt die Frau, die das Haus mittlerweile wie ihre Westentasche kennt. (mz)


