Platte statt Schloss BellevuePlatte statt Schloss Bellevue: Steinmeier in Halle: Der Respekt geht verloren
Halle (Saale) - Dass sie so nahe an den Bundespräsidenten herankommt, hätte Lisa-Marie Fitzner nicht gedacht. Lässig lehnt sich die 23-Jährige mit ihrem Ellbogen auf dem Stehtisch mit der festlich-weißen Decke ab.
Dass sie so nahe an den Bundespräsidenten herankommt, hätte Lisa-Marie Fitzner nicht gedacht. Lässig lehnt sich die 23-Jährige mit ihrem Ellbogen auf dem Stehtisch mit der festlich-weißen Decke ab.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier steht neben ihr, auch er lehnt sich an den Tisch. Genüsslich nippt er an seinem Kaffee und hört der Hallenserin zu. Eigentlich herrscht Aufbruchstimmung im KulturTreff in Halle-Neustadt.
Dort hat zuvor eine Diskussionsrunde des Bundespräsidenten zum Thema „Dialog zwischen Politik und Bürgern“ stattgefunden. Eigentlich müsste das 63-Jährige Staatsoberhaupt längst in seiner gepanzerten Karosse in Richtung Berlin sitzen, doch für Lisa-Marie Fitzner und ihre Mitschüler nimmt sich Steinmeier zusammen mit seiner Frau Elke Büdenbender noch ein wenig Zeit.
Lisa-Marie Fitzner kann nicht verstehen, dass es in Deutschland so große Lohnunterschiede gibt. „Die finanziellen Unterschiede zwischen einem Job in der Altenpflege und einem Job im Büro sind einfach viel zu groß. Darauf hätte ich gerne eine Antwort“, sagt die gelernte Zahnarzthelferin. Vorher sitzt Fitzner nur im Publikum, die Frage möchte sie im Anschluss aber unbedingt stellen.
Frank-Walter Steinmeier im Kulturtreff in Halle
Fitzner ist Schülerin der Schule des Zweiten Bildungsweges, die sich nur einen Steinwurf vom KulturTreff in Halle-Neustadt befindet. An der Schule können junge Menschen ihr Abitur nachholen, entweder tagsüber in einem Kolleg oder berufsbegleitend in der Abendschule.
Vor knapp drei Wochen seien die Schüler von ihrem Schulkoordinator gefragt worden, ob sie Interesse an einer Diskussion mit dem Bundespräsidenten hätten.
„Da es um aktuelle politische Fragen gehen sollte, habe ich mich gleich in die Liste eingetragen“, erzählt Lisa-Marie Fitzner der MZ, als der Bundespräsident in der halleschen Innenstadt unterwegs ist.
Im Ratshof unterhält er sich mit Halles Oberbürgermeister Bernd Wiegand (parteilos) und den Vorsitzenden der Stadtratsfraktionen im Ratshof, außerdem trägt er sich in das Goldene Buch der Stadt ein.
Mit rund 20 Minuten Verspätung kommt Frank-Walter Steinmeier am KulturTreff in Halle-Neustadt an. Begleitet wird er von seiner Frau und Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU). Steinmeier setzt sich gleich auf seinen zugewiesenen Platz, im Hintergrund ist eine Sprechblase mit dem Text „Du bist Politik“ zu sehen.
Dass sich an der Politik jeder beteiligen kann und dass vor allem Mitsprache wichtig ist, ist einer der Gründe des Besuches von Frank-Walter Steinmeier in der Saalestadt - Hauptgrund ist aber die Demokratie, die Demokratie im Alltag.
Steinmeier: Respekt vor anderer Meinung geht immer mehr verloren
Das Staatsoberhaupt hatte vor einem Jahr alle Landeszentralen und Landesbeauftragten für politische Bildung zum Wettbewerb „Demokratie ganz nah - Ideen für ein gelebtes Grundgesetz“ aufgerufen. Dabei geht es um Initiativen der sogenannten aufsuchenden politischen Bildung, die unterschiedliche Diskussions- und Beteiligungsformate jenseits der Schule anbieten.
Diskussionen versprechen Debatten und die hätten sich in den vergangenen Jahren insbesondere im politischen Betrieb merklich verändert, sagt der Bundespräsident. „Wenn ich abends noch keine schlechte Laune habe, dann schaue ich mir meinen Facebook-Account an“, so Steinmeier. Immer wieder würde es dort zum Teil harsche Kommentare geben. Man brauche in der Politik Streit, man brauche Kontroverse.
„Streit muss nur so geführt werden, dass man auch Respekt vor der anderen Meinung hat“, sagt Frank-Walter Steinmeier. Diese Einstellung sei immer mehr verloren gegangen. „Wir müssen runter von dem Gefühl, dass nur die eigene Meinung richtig ist. Uns geht die Fähigkeit zum kultivierten Streit verloren“, so der Bundespräsident. Gleichzeitig mahnt er einen stärkeren Dialog in der Gesellschaft an. In einer Demokratie habe nicht nur einer Recht, so der 63-Jährige weiter.
Steinmeier stellt sich für eine Stunde Fragen der Bürger
In der Diskussion, an der sich acht Bürger aus Neustadt beteiligen, geht es um die verschiedensten Themen. Ein Maurerlehrling fragt zum Beispiel, warum es die Lohnunterschiede zwischen West und Ost gebe. „Wir sind doch seit mehr als 30 Jahren wiedervereinigt“, so der junge Mann. Der Bundespräsident antwortet erst ausweichend, sagt dann aber: „Es gibt ein paar Dinge, die bei dem Rückblick auch schmerzen, dazu gehört auch, der Unterschied der Bezahlung.“
Satenik Ruth vom Verband der Migrantenorganisationen Halle fordert mehr Integrationskurse unabhängig des Aufenthaltsstatus. „Vor allem für Mütter sind Sprachkurse wichtig, oftmals können sie solche aber nicht besuchen, weil es an der Kinderbetreuung mangelt.“ Die Sprache sei ein wichtiger Bestandteil für eine erfolgreiche Integration. „Man kann nur miteinander sprechen, wenn man auch die Sprache kann“, so Satenik Ruth.
Lisa-Marie Fitzner kann ihre Frage indes nicht stellen, die Diskussion endet vorher und Steinmeier enthüllt vor dem KulturTreff eine „Säule des Grundgesetztes“, die Auszubildende des Ausbildungszentrums Bau Holleben hergestellt haben. Fitzner geht nach draußen telefonieren, als sie wieder reingerufen wird. Der Bundespräsident würde sich gerade mit ihren Mitschülern unterhalten. Was folgt ist Small-Talk.
„Die Politik würde sich darum kümmern, dass die Lohn-Schere ausgeglichen wird, sagte mir Steinmeier“, erzählt die 23-Jährige. Steinmeier sei sehr viel menschlicher, als sie immer dachte. Nach dem Gespräch hat sie noch einen Wunsch: „Diese Diskussionen sind wichtig, aber sie sollten sehr viel länger gehen. Nicht nur eine Stunde.“ (mz)