Lesung in Gräfenhainichen Lesung in Gräfenhainichen: Einhörner und andere Andere
Gräfenhainichen - Mit ihrem neuen Buch ist Antje Wagner zur Kurzform zurückgekehrt. „Unicorns don’t swim“ versammelt Erzählungen, 20 Werke von 17 Autorinnen. Erstmals firmiert Wagner, die selbst zwei Erzählungen beisteuert, als Herausgeberin. Der Titel des Bandes - gleichzeitig der einer Erzählung - weist bereits darauf hin, worum es geht: um Normalität, die keine ist bzw. um keine Normalität, die sehr wohl eine ist. Die nüchterne Feststellung, dass Einhörner nicht schwimmen können, setzt ja fantastischerweise voraus, dass es sie überhaupt gibt.
Aber dies ist keine Fantasy-Sammlung, wiewohl Antje Wagner, geboren 1974 in Wittenberg, in ihren eigenen Werken („Unland“, „Vakuum“) durchaus gern zu solchen Elementen greift und auch eine ihrer Erzählungen in „Unicorns“ formal nicht in der Realität angesiedelt ist. Der Herausgeberin und den von ihr ausgewählten Erzählerinnen geht es um Bilder des Weiblichen, die nicht dem Standard entsprechen, mal ganz plump gesprochen: um die Wahrheit, dass nicht alle Mädchen ihre blonden Locken kämmen und ansonsten auf den Traumprinzen warten. „Unicorns“ liefert andere Rollenmodelle. Mädchen machen Krafttraining und designen Computerspiele, und ja, sie können sich auch in ihresgleichen verlieben und gleichgeschlechtliche Beziehungen eingehen. Wagners Erzählung „Feuer und Flamme“ beleuchtet dieses Thema selbst auf - dann doch wieder einmal fantastische - ungemein lustige Weise: Was tun, wenn frau feststellt, dass die frisch Angetraute ein Drache ist und Tag für Tag „eine Unzahl blauschimmernder Schuppen“ verliert? Nun, frau geht in den Supermarkt und kauft Schuppenshampoo. Damit ist die Sache zwar noch nicht gegessen für Jacky und ihre Florentine, aber immerhin auf gutem Weg. Manche, sagt ihr guter Freund Micha, seien schließlich mit einem Gnu verheiratet. Oder einem Nacktmulch.
Andere Erzählungen sind deutlich ernster. In „Metamorphose“ von Tania Witte etwa muss die Protagonistin damit klarkommen, dass die verschwundene Mutter - nun ein Mann ist. Und Kathrin Schrockes „Kirschkönigin“ mag nach gängigen Maßstäben ja ein Mannweib sein und die Erwartungen ihrer Familie nicht erfüllen - wäre sie aber eben nicht von grobschlächtiger Gestalt und trainingsgestählt, hätte sie niemals ihre Mutter und all die anderen Damen aus der Brandhölle retten können, in die sich der Austragungsort des Kirschköniginnenwettbewerbs wegen eines technischen Defekts verwandelt. Dass das Mädchen daraufhin doch noch „Kirschkönigin“ wird, darf man als Triumph des Andersseins verstehen - Milena ist die erste, die in Gummistiefeln gekrönt wird und ihr männliches Pendent, den „Holunderprinzen“, um 30 Zentimeter überragt...
Die fast ausnahmslos hohe Qualität der Erzählungen macht „Unicorns“ auch für jene interessant, die sich selbst nicht als - vermeintliche - Außenseiter verstehen. So gesehen möchte „Unicorns don’t swim“ allen (Mädchen) Mut machen, ihre Andersartigkeit anzunehmen, gerade in einem Alter, wo der Drang dazuzugehören mindestens ebenso stark ist wie der Protest. Geeignet ist das Buch für Leser ab 14 Jahre. (mz)