Nach Hochwasser in Bitterfeld Nach Hochwasser in Bitterfeld: "Schutz an der Mulde ist sehr wirksam"

bitterfeld/MZ - Nach dem Hochwasser müssen die Bauvorhaben im Altkreis Bitterfeld erneut geprüft werden. Das kündigt Burkhard Henning, Leiter des Landesbetriebes für Hochwasserschutz und Wasserwirtschaft (LHW), an. Mit ihm sprach MZ-Redakteurin Lisa Garn über das Sachsen-Problem, leidige Diskussionen und Forderungen an die Politik.
In der Katastrophe liegen die Nerven blank. Ihre auch?
Henning: Ich rege mich auch mal auf und formuliere deutlich, was ich will. Aber es bringt nichts, den Kopf zu verlieren. So kommt man zu keinen Ergebnissen.
Im Ergebnis: Hat man aus der Katastrophe 2002 gelernt? Wie wirksam ist der Schutz im Altkreis Bitterfeld?
Henning: Sehr wirksam, vor allem an der Mulde. In Raguhn-Jeßnitz ist viel passiert. Es sind „nur“ die Altdeiche, um die wir uns kümmern müssen, die neuen haben gehalten. Sonst wäre das Ganze sicher anders ausgegangen.
Das Problem im Brennpunkt Bitterfeld hatte seine Ursache in Sachsen. Hat man dort geschlampt?
Henning: So weit würde ich nicht gehen. Man hat versucht, die Deiche zu sanieren. Aber es besteht definitiv Nachholbedarf. Die Deiche im Bereich Löbnitz halten nicht. Weil sich dort die Mulde immer wieder ihr altes Bett sucht, müssten sie technisch anders gebaut werden. Wenn alles überstanden ist, sollte sich die länderübergreifende Arbeitsgruppe Hochwasserschutz neue Schwerpunkte setzen: Wir müssen uns dringend um das Thema Lober-Leine-Kanal und Seelhausener See kümmern. Hochwasserschutz ist keine Inselaufgabe, da muss noch stärker zusammengearbeitet werden.
In der Krise hat das offenbar nicht funktioniert.
Henning: Das kann ich so nicht bestätigen. Auf Fachebene hat es funktioniert. Aber es ist eine Katastrophensituation, da gibt es Reibungsverluste. Der eine will, dass etwas schneller geschieht, der andere hat Bedenken. Und wenn ein Plan nicht funktioniert, muss man schnell umdenken. Das sind Momentaufnahmen und da macht man auch mal was falsch. Das war sicher auf beiden Seiten so.
Was wurde denn falsch gemacht?
Henning: Dafür gibt es einen Lagefilm, den wir auswerten und ableiten, was man beim nächsten Mal anders machen muss. Ich denke, dass sich die Katastrophenstäbe besser verzahnen müssen.
Ein Blick auf Raguhn-Jeßnitz: Dort ist man empört, dass Bauprojekte noch ausstehen. Zu Recht?
Henning: Das dürfen die Betroffenen. Es ist dramatisch, dass vieles bei diesem Hochwasser schon längst hätte stehen können. Das gilt besonders für den Deich Jeßnitz-West nach Greppin.
Ist das LHW mit schuld?
Henning: Im Gegenteil: Wir sind diejenigen, die auch schneller wollen - aber nicht können. Das Geld ist in der Regel da. Aber weil man ständig Kompromisslösungen finden muss, ziehen sich diese Verfahren unglaublich in die Länge.
Ohne Naturschützer wäre alles besser?
Henning: Die Diskussionen über naturschutzfachliche Details sind quälend. Die sind das größte Problem, private Flächeneigentümer haben ja nach 2002 meist ein Einsehen. Aber dieses Verstecken hinter dem Naturschutzrecht, das mehrere Ebenen bis hin zu EU-Richtlinien hat, zieht die Verfahren in die Länge. Dann gibt es noch ein Gutachten und noch eins, zig Trassen ... Das ärgert auch uns.
Sachsen will neue Wege gehen und die Verfahren beschleunigen. Ist das der Weg auch für Sachsen-Anhalt?
Henning: Wir können nicht alles im Konsens auskochen. Die Politik ist gefordert: Wir brauchen dringend Änderungen in der Gesetzgebung. Die Planungs- und Verwaltungsverfahren müssen vereinfacht werden. Es geht doch vor allem um eine Güterabwägung: Naturschutz, Denkmalschutz und andere Interessen auf der einen und der Schutz für Leib, Leben und Sachgüter der Menschen auf der anderen Seite. Wir haben eine zweistellige Milliardensumme Schaden in Deutschland - wollen wir uns das ein drittes Mal antun?
Und wann wird nun der Schutz für Raguhn-Jeßnitz erhöht? Man wartet seit Jahren auf den Deichlückenschluss Jeßnitz-West nach Greppin und die Deichrückverlegungen Altjeßnitz und Retzau.
Henning: Für alle drei Projekte gilt: Es gab immer wieder lange Diskussionen. In Jeßnitz-West wollten wir ab 2014 bauen. Wir wurden aber mit immer neuen Problemlagen konfrontiert. Die größten waren die Verbundleitungen von Wasser und Gas, die dort liegen, die Trasse musste verlegt werden.
Was ist das Problem in Retzau?
Henning: Da gab es lange Bedenken aus der Landwirtschaft und Probleme mit den Fernleitungen für Gas und Mineralöl. Nun ist ein Kompromiss gefunden und auch eine Trasse. Das Projekt wird vorbereitet für das Genehmigungsverfahren. Wann der Bau starten kann, ist ungewiss, vielleicht 2015.
Wie ist der Stand in Altjeßnitz?
Henning: Diese Deichrückverlegung ist absolut überfällig. Aber Bürger befürchten, nicht ausreichend geschützt zu sein. Vor 2015 ist nicht mit einer Genehmigung zu rechnen.
Rutschen die Vorhaben nach dem Hochwasser in der Prioritätenliste nach oben?
Henning: Wir hüpfen nicht wie der Hase von Loch zu Loch. Wir arbeiten nach Schwerpunkten ab und da steht Raguhn-Jeßnitz mit Jeßnitz-West ohnehin ganz oben.
Und sind diese Projekte durch die neuen Ereignisse gefährdet?
Henning: Das ist die große Tragik dieser Katastrophe: dass wir jetzt alles erneut überprüfen müssen. Wir müssen sehen, was das Wasser angerichtet hat, welche Mengen abflossen, ob Deichhöhen und Bauwerke richtig bemessen sind.
Dauert das wieder Jahre?
Henning: Davon gehe ich nicht aus. Aber die Projekte werden sich verzögern. Wie lange, kann ich nicht sagen - sicher nicht zwei Jahre. Aber für die erneute Prüfung sollte jeder Verständnis haben: Wir würden sonst womöglich unverzeihliche Fehler begehen.
Wie steht es um den Flutungspolder Rösa? Er ist noch immer nicht fertig.
Henning: Es wird aber die nächsten Jahre gebaut. Er ist ein besonderes Projekt in Deutschland, was Größe und Finanzen angeht. Und es ist eine Gemeinschaftsarbeit mit Sachsen, auch bei Löbnitz entstehen diese Flächen. Wir sind froh, dass wir nun Baurecht haben und wollen dieses Jahr beginnen.
Und warum zieht sich der Bau vom Leine-Siel in Bitterfeld in die Länge?
Henning: Es hätte 2012 gebaut werden können. Es waren aber wegen massiver Grundwasserprobleme noch Untersuchungen des Sonderarbeitskreises nötig. Nun gibt es zwar eine Genehmigung und wir wollen 2014 mit dem Bau beginnen. Aber auch dort müssen wir nun sehen, was sich nach dem Hochwasser verändert hat.
Wird es je einen umfassenden Schutz im Altkreis geben?
Henning: Maßlosen Schutz gibt es nicht. Das Geld muss sicher auch in andere wichtige Bereiche fließen. Und selbst wenn - die Natur sorgt immer für Überraschungen. Man denke an den Orkan Kyrill, an den schlimmen Hagelschlag in Bernburg. So ist es mit dem Wasser: Wer hinter einem Deich wohnt, wohnt in einem potenziellen Überschwemmungsgebiet. Das wird immer so bleiben.
