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Flucht vor dem Krieg „Müssen uns auf Marathon einstellen“: Erste Ukrainer in Anhalt-Bitterfeld angekommen

Wie es mit ihnen weitergeht - und wie die Hilfe organisiert wird.

Von Andrea Dittmar Aktualisiert: 11.03.2022, 13:24
Donnerstagmittag kam ein Bus aus Halberstadt an - rund 20 Flüchtlinge, Frauen und Kinder, brachte er zur Bitterfelder Brauereiturnhalle. In der Erstaufnahmeeinrichtung werden die Menschen vom DRK betreut.
Donnerstagmittag kam ein Bus aus Halberstadt an - rund 20 Flüchtlinge, Frauen und Kinder, brachte er zur Bitterfelder Brauereiturnhalle. In der Erstaufnahmeeinrichtung werden die Menschen vom DRK betreut. (Foto: André Kehrer)

Bitterfeld/MZ - Mandy Beier hatte keine lange Nacht. Kurz vor 23 Uhr kam der Anruf: Die ersten ukrainischen Flüchtlinge sind kurz vor Bitterfeld. Also machte sich die Bereitschaftsleiterin des Deutschen Roten Kreuzes auf den Weg zur Brauereiturnhalle, wo wenig später 38 Frauen, Kinder und ältere Männer ankamen. Die Ehrenamtlichen kochten Suppe, richteten die Feldbetten her, schrieben Namen in Listen, machten Corona-Tests. Erst weit nach Mitternacht kehrte Ruhe in der Erstaufnahmeeinrichtung ein.

Am Donnerstagmittag ist es ruhig in der großen Sporthalle, noch. Denn der zweite Bus ist angekündigt. Mandy Beier ist wieder auf den Beinen. Sie läuft zwischen den Feldbetten hindurch, lächelt den zurückgebliebenen sechs Frauen und Kindern aufmunternd zu, kann sich aber nicht mit ihnen unterhalten - Sprachbarriere.

Dank der Ehrenamtlichen gibt es eine warme Mahlzeit nach der Ankunft.
Dank der Ehrenamtlichen gibt es eine warme Mahlzeit nach der Ankunft.
(Foto: Kehrer)

„Die Menschen haben unglaubliches Leid erfahren und sind traumatisiert“

Um diese aufzulösen, kommt Harald Blum zur Tür der Turnhalle herein. Der Rentner aus Schlaitz hat bis 1980 in Odessa studiert, spricht fließend russisch und hatte sich beim Landkreis als Dolmetscher gemeldet. Auch er war bereits nachts im Einsatz. Er wolle nicht nur zu Hause sitzen und im Fernsehen zuschauen, was passiert. „Die Menschen haben unglaubliches Leid erfahren und sind traumatisiert.“ Einige hätten erzählt, dass im Nachbarhaus Bomben eingeschlagen seien.

Eine der Frauen, die bereits eine Nacht in Bitterfeld verbracht haben, ist Galena. Sie sitzt auf einer Bank vor der Brauereiturnhalle, trinkt Kaffee aus einem Plastikbecher und hält ihr Gesicht in die Märzsonne. Beim Interview hilft der Übersetzer auf dem Handy. „Ich bin durch drei Länder geflohen“, berichtet sie. Erst aus ihrer Heimatstadt, einem Ort bei Vinnytsa, nach Polen und von der deutsch-polnischen Grenze aus mit dem Bus nach Deutschland. Sie ist allein gekommen und wird in Bitterfeld-Wolfen bleiben. Andere sind bereits am Morgen weitergefahren - nach Kassel, Leipzig und sogar Luxemburg. Sie wollen zu Freunden und Familie.

Die Brauereiturnhalle ist mit Feldbetten und Bierzeltgarnituren ausgestattet.
Die Brauereiturnhalle ist mit Feldbetten und Bierzeltgarnituren ausgestattet.
(Foto: Kehrer)

Der Ablauf ist nach wenigen Minuten eingespielt

Schließlich hält der zweite Reisebus vor der Turnhalle. Rund 20 Frauen und Kinder steigen aus, sie greifen ihre Koffer, Rucksäcke und Plastiktüten. Ein Hund kommt auf den Arm, der zweite muss im Bus warten. Die Ukrainer kommen aus Halberstadt - dort hat das Land Sachsen-Anhalt zentral erst einmal Kriegsflüchtlinge aufgenommen und verteilt sie nun weiter. Sie müssen ihre Daten angeben, erst dann können sie zum Beispiel auch zum Arzt gehen. Warum das wichtig ist, zeigt ein Fall aus der Nacht: Einer der Flüchtlinge hat das Tourette-Syndrom. Eine Ärztin aus Wolfen würde ihn behandeln, doch die Medikamente sind teuer. Abgerechnet werden können sie erst, wenn er einen Krankenschein hat.

Der Ablauf ist nach wenigen Minuten eingespielt, Daten angeben, Corona-Test machen, dann können die Feldbetten bezogen werden und es gibt eine warme Mahlzeit. Sechs von den Flüchtlingen wollen direkt mit dem Bus zurück in den Harz - sie haben Bekannte in Quedlinburg und kommen dort unter.

Die ankommenden Frauen sind traumatisiert nach der Flucht.
Die ankommenden Frauen sind traumatisiert nach der Flucht.
(Foto: Kehrer)

„Wir müssen uns auf einen Marathon einstellen“

Für die anderen werden nun Wohnungen und Unterkünfte gesucht. Pensionen wie die am Wolfener Nordpark oder das Deutsche Haus sind bereits eingesprungen, nun braucht es beziehbare Zimmer in Wohnungen, wo die Leute länger bleiben können. Deswegen ist Peter Schenk, Mitarbeiter im des Landkreises im Bereich Migration und Integration, ständig am Telefon. „Viele private Wohnungen müssen noch gesichtet werden“, erklärt er.

Dann können die Flüchtlinge verteilt werden. Die Kommunen bauen gerade außerdem ihre Helfernetzwerke auf. Zweimal täglich soll der Landkreis außerdem die Zahl der Angekommenen melden. Aktuell sind es knapp unter 400. „Die Dunkelziffer liegt aber höher“, ist sich Fachbereichsleiterin Diane Gardyan sicher. Denn viele kämen auch mit ihrem Auto.

Harald Blum hatte sich als Dolmetscher gemeldet und hilft, wo er kann.
Harald Blum hatte sich als Dolmetscher gemeldet und hilft, wo er kann.
(Foto: Kehrer)

Eine Nacht werden die Flüchtlinge erst einmal in der Turnhalle verbringen. Ob und wie viele morgen kommen, weiß keiner der Anwesenden. „Wir müssen uns auf einen Marathon einstellen“, glaubt derweil Dolmetscher Harald Blum.