Welle der Hilfsbereitschaft Flucht vor dem Krieg: Erste Ukrainer kommen in Wolfen an
Wie private Initiativen und die Stadt in den wenigen Tagen seit Beginn der russischen Angriffs ein Netz der Hilfe schufen. Flüchtlinge finden deutliche Worte.

Wolfen/MZ - Drei Tage, mehr als 1.500 Kilometer Autofahrt, Angst, Wut und Unverständnis als Begleiter: Olena Chenchyk ist vor dem Krieg in der Ukraine geflohen. Mit Kindern, Vater und Schwiegervater ist sie in Wolfen angekommen. So wie 30 andere ihrer Landsleute.
Wolfen soll Zuflucht sein, nicht Endstation. Das sagt die 41-Jährige geradeheraus. Heimat ist und bleibt Bila Zerkwa, eine Stadt gut 70 Kilometer westlich der Hauptstadt Kiew. Dort ist ihr Mann geblieben, auch ihr Schwager ging nicht fort. „Sie verteidigen die Heimat. Aufgeben und die weiße Flagge schwenken, das kommt nicht in Frage“, erklärt Chenchyk.
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Die Emotionen sind groß. Der russische Angriff auf die Ukraine hat das Leben von Olena Chenchyk von einem Tag auf den anderen verändert. Sie ist Flüchtling und dankt für die Aufnahme. „Schreiben Sie das. Schreiben Sie, dass wir den Menschen hier so dankbar sind, dass sie mit Spenden helfen, mit Wohnraum, mit Kontakten“, sagt sie. „Aber schreiben Sie auch, dass die deutsche Regierung diese Entschlossenheit hätte auch zeigen müssen - bevor die Bomben gefallen sind.“ Es sind Worte, die die Dramatik der Ereignisse in der Ukraine und in ganz Europa beschreiben. Krieg ist gegenwärtig, die Hilfsbereitschaft aber auch. Es ist in Bitterfeld-Wolfen zunächst einer privaten Initiative zu verdanken, dass die Stadt zum Fluchtpunkt werden konnte. Zu den Akteuren gehört zum Beispiel der Unternehmer Tobias Schmidt, dessen Frau über Bekannte wusste, dass Ukrainer bereits auf der Flucht waren. „Es ging alles ganz schnell“, sagt Wolfens Ortsbürgermeister André Krillwitz (Pro Wolfen). Über eine neue Whatsapp-Gruppe habe man sich abgestimmt. „Irgendwas mussten wir doch tun.“

Zu den ersten Helfern gehören auch die großen Wohnungsunternehmen der Stadt, die Wohnraum zur Verfügung stellten. „Wir haben spontan unsere Pension ,Am Nordpark’ wieder hochgefahren. Dort sind die ersten Flüchtlinge untergekommen“, bestätigt Jürgen Voigt, Geschäftsführer der Wohnungs- und Baugesellschaft Wolfen. Und die Wohnungsgenossenschaft Wolfen hat nach MZ-Informationen 20 Wohnungen für die Unterbringung von Flüchtlingen vorgesehen.
Es sind aber vor allen Dingen Privatleute, die das alte Bahnhofs-Empfangsgebäude in Wolfen aufsuchen. Gespendet wird alles. Kleidung, Bettwäsche, Hygieneartikel, Lebensmittel kommen am Montagnachmittag praktisch im Minutentakt an. „Wir werden förmlich überrannt“, sagt Ortsbürgermeister André Krillwitz, der auch auf die Zusammenarbeit mit der Ortsgruppe der DLRG bauen kann. „Mal ganz praktisch: Wenn wir sehen, dass wir schon 50 mal Bettwäsche haben, packen wir um und bringen das zur Sammelstelle des Landkreises in die Richard-Schütze-Straße nach Bitterfeld. Das macht die DLRG mit ihren Fahrzeugen.“ Die Lebensrettungsgesellschaft übernimmt außerdem die Testung der Flüchtlinge. „Denn wir haben auch noch die Pandemie. Tests auf das Coronavirus sind zum Schutz aller einfach wichtig“, erinnert Bitterfeld-Wolfens Oberbürgermeister Armin Schenk (CDU).
Stadtverwaltung beruft Sonderstab ein
Er hat in der Stadtverwaltung den Stab für außergewöhnliche Ereignisse (SAE) einberufen und mit dessen Mitgliedern bereits mehrfach getagt. „Es gibt verschiedene Ebenen, die berücksichtig werden müssen. Wir haben die privaten Initiativen, die ich ausdrücklich unterstütze. Und wir haben die Tatsache, dass Flüchtlinge über den Bund, das Land und den Landkreis zugeteilt werden“, erklärt Schenk. Momentan werden im Rathaus freie Wohnkapazitäten für die Unterbringung von Ukrainern erfasst.
Die Stadt unterstützt zeitgleich die privaten Initiativen. Gestern registrierten Mitarbeiter der Verwaltung unter anderem die persönlichen Daten der Flüchtlinge, erfassten Hilfsbedarf in medizinischen Fragen. „Das hilft, das gibt ein Stück weit Sicherheit“, sagt Olena Chenchyk. Vater Oleksandr (67) und Schwiegervater Grigory Kravchuk (75) stehen neben ihr. Ihnen fehlen die Worte und nach der langen Flucht auch noch die Kraft zum Reden.
