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30 Jahre Mauerfall 30 Jahre Mauerfall: Eine DDR-Fahne bereitete Altjeßnitzerin Brigitte Petzold 1989 eine schlaflose Nacht

Von Silke Ungefroren 09.10.2019, 09:38
Brigitte Petzold, die seit ihrer Kindheit gern schreibt, Lesungen gibt und auch schon Bücher veröffentlicht hat, erinnert sich an die Wendezeit.
Brigitte Petzold, die seit ihrer Kindheit gern schreibt, Lesungen gibt und auch schon Bücher veröffentlicht hat, erinnert sich an die Wendezeit. André Kehrer

Altjeßnitz - Oktober 1989. Brigitte Petzold aus Altjeßnitz erinnert sich noch genau daran. Der 40. Jahrestag der DDR steht an. „Und es soll natürlich gefeiert werden“, sagt sie. „Nur, dass den Leuten gar nicht danach ist.“ Sie begründet das auch: Seit Wochen schon fahren die Bürger mit selbstgeschriebenen Transparenten nach Leipzig, um friedlich gegen DDR-Willkür zu demonstrieren.

In der deutschen Botschaft in Prag versammeln sich ganze Familien in Ungewissheit, wie das alles enden wird. In Ungarn kann man schon ohne große Schwierigkeiten den Westen erreichen. Nichtsdestotrotz soll den DDR-Bürgern eine Normalität vorgegaukelt werden, die es nicht mehr gibt.

Als Brigitte Petzold den Aufruf in der MZ liest, über Erlebnisse aus der Wendezeit zu berichten, greift sie zum Stift und schreibt. Ein Bedürfnis für die Hobby-Autorin, die oft Lesungen gibt und auch schon Bücher veröffentlicht hat. Denn der 85-Jährigen ist sofort etwas eingefallen, was sie nie vergessen wird. Heute schmunzelt sie, wenn sie daran denkt. Damals sah das ganz anders aus. Da hatte sie schlaflose Nächte - auch Angst.

Vor einigen Häusern - sehr wenigen - bewegen sich 1989 DDR-Fahnen im Oktoberwind

Und so war das: Wie jedes Jahr zum Republikgeburtstag wird auch an diesem 7. Oktober in ihrem Heimatort ein Tanzabend organisiert. Der ist immer gut besucht. „Doch es erscheint vielen Leuten abartig, in dieser angespannten Lage mit ungewissem Ausgang auch noch zu tanzen.“ Allein zu Hause sitzen wollen sie und ihr Mann aber auch nicht.

Also besuchen sie ihre Freunde, um über die Lage zu diskutieren. „In der Dunkelheit gehen wir durchs Dorf“, sagt die Frau. „In vielen Fenstern stehen Kerzen, die den Wunsch nach einem friedlichen Ausgang aus der prekären Lage symbolisieren.“ Vor einigen Häusern - sehr wenigen - bewegen sich DDR-Fahnen im Oktoberwind ...

Bei den Freunden wird eine Flasche Wein auf den Tisch gestellt. Alle sind ein wenig aufgekratzt, das schreiben sie der außergewöhnlichen Lage zu. Also bleibt es nicht bei dieser einen Flasche. Ihr Mann drängt nach Hause, will nicht, dass die kleine Party ausufert. „Doch ich, eigentlich brav und vernünftig, protestiere“, erzählt Brigitte Petzold. „Ich will noch nicht gehen. Mir gefällt es jetzt gerade hier.“ Überzeugen kann sie ihren Gatten, „der mich noch nie im Stich gelassen hat“, nicht. Mitten in der Nacht lässt er sie allein und macht sich los.

Brigitte Petzold gingen an dem Abend viele Gedanken durch den Kopf

Als sie schließlich auch gehen möchte, begleiten die Freunde sie. Draußen hat sich zum kräftigen Wind inzwischen Regen gesellt. „Meine Freundin, die sowieso nicht an Herzdrücken stirbt, ruft lautstark: ,Ich will Reisefreiheit!‘“ Deren Mann bekommt Angst, fordert sie auf, das zu unterlassen, weil auch noch andere Leute unterwegs sind. Denn: „Auch wenn dieser Staat in den letzten Zügen liegt, ist es gefährlich, sich so zu äußern.“ Weil Wind und Regen mittlerweile stärker geworden sind, wedelt ihnen plötzlich eine nasse Fahne vor der Nase herum - klatscht ausgerechnet der Freundin ins Gesicht. Die zieht mit voller Kraft daran, bis die Fahne zerknüllt und nass auf dem Fußweg liegt.

Den Rest des Weges geht Brigitte Petzold dann allein. Viele Gedanken schießen durch ihren Kopf: Was, wenn es jemand gesehen hat? Eine DDR-Fahne herunterzureißen, wird nicht unbestraft bleiben. „Was sage ich, wenn man mich verhört? Es ist mir klar, dass ich meine Freundin nicht verraten werde. Kann ich mich dumm stellen und sagen, ich hätte es nicht bemerkt? Kann ich den Alkoholkonsum ins Spiel bringen?“

Als sie zu Hause ankommt, ist sie völlig nüchtern. Ihr Mann schläft den Schlaf der Gerechten, während sie die ganze Nacht wach liegt und das Geschehene durch ihren Kopf geistert. Am Morgen, ein Sonntag, ist alles wie gewohnt. „Mein Mann fragt scheinheilig, wie ich nach Hause gekommen bin. Ich antworte kurz angebunden: ,Gut.’“

Der Bürgermeister beruhigt die Lage am kommenden Tag wieder

Am nächsten Tag findet eine Gemeindevertretersitzung statt, an der auch ihr Mann teilnimmt. Meistens geht es dort um Park, Irrgarten oder Straßenverschönerung. Doch auch die besondere Lage im Staat ist ein Thema, das man nicht einfach ignorieren kann. Hinterher erzählt ihr Mann, worüber so diskutiert wurde: Bei einem Genossen wurde die Fahne heruntergerissen und lag auf der Straße im Schmutz! „Ich schlucke, hüte mich aber, dazu irgendetwas zu sagen.“ Der Bürgermeister, ein besonnener Mann, hatte die Runde beruhigt. „Ich glaube, dass der Wind die Fahne heruntergerissen hat. Ich denke, dass wir die Sache nicht weitermelden brauchen. Das kann schon mal passieren.“

Damit ist der Fall erledigt. „Ich lebe noch ein paar Tage in Unruhe und dann ist die DDR ohnehin Geschichte.“ Erst sehr viel später erzählt sie ihrem Mann davon - und gibt ihm die Schuld an dem Ereignis, weil er sie damals in der Nacht allein gelassen hatte ... (mz)

Zum Republikgeburtstag hingen die Fahnen damals überall.
Zum Republikgeburtstag hingen die Fahnen damals überall.
DPA