Neues Theater Halle Neues Theater Halle: Gärung des Sauerteigs
Halle/MZ. - So werden die "Feuchtgebiete" diskutiert,seitdem sie die Bestseller-Listen anführen -als beherzter Griff unter die Gürtellinieder Hochkultur, die sich unter so zupackenderAttacke in einer Mischung aus Schmerz undLust windet. Aber was tut da eigentlich weh?Und was bereitet Vergnügen?
In Christina Friedrichs Fassung für das NeueTheater Halle sind die Übergänge - pardon! -fließend. Komik entsteht vor allem durch szenischeÜbersetzungen, die das Stück für seine Vorlagefindet: Wo Charlotte Roche explizit von Selbstbefriedigungoder von sexuellen wie hygienischen Grenzüberschreitungenspricht, verbietet sich die Regie jede Illustration.Statt dessen werden Fruchtblasen aufgestochenund Teige geknetet, wird gecremt und geraspelt,gekeucht, geklopft und beatmet.
Die biografische Schattenseite der Helen Memel,die mit der künstlichen Verlängerung ihresKlinik-Aufenthalts auch die getrennten Elternwieder zusammenführen will, wird nach Arteiner therapeutischen Familienaufstellungvariiert und setzt traurige Kontrapunkte.Dass sich Regie-Team und Schauspieler dabeifreilich so tief in die Geschichte vergraben,dass ihnen ein Außenstehender ohne Kenntnisdes Romans kaum noch folgen kann, ist offensichtlich.Überhaupt wird die Suche zum Selbstzweck:Nachdem die sieben Darsteller ihre organischgeformten und mit Licht und Ton durchpulstenBrutkästen verlassen haben, tasten und tobensie in immer neuen Etüden durch ihren Körperraum.
Das hat oft die unbekümmerte Spielfreude einesKindergeburtstags, bei dem man sich mit "schlimmen"Wörtern zu überbieten sucht. Manchmal erinnertes an die offensive sexuelle Bekenntniswutvon Eve Ensslers "Vagina-Monologen", ohnefreilich deren politischen Anspruch mitzudenken.Und selten wird es wirklich erschütternd intim,wenn beispielsweise Ines Schiller als Ersteunter Gleichen ihre Sex-Phantasien mit einemMann schildert, während sich dieser wimmerndvor Angst und Sehnsucht nach solcher Berührungvor ihren Füßen krümmt.
Jeder der Darsteller hat solche Momente:Die Studentinnen Lisa Bitter und StefanieRösner in ihren gestelzten Model-Posen oderin ihrem wütenden Kampf gegen die kleinenSpeckröllchen, die Studenten Benjamin Berger,Matthias Faust, Bastian Reiber und BenjaminSchaup als Boygroup mit Tourette-Syndrom oderals lüsterne Pizzabäcker. Von allen verlangtder Abend den Mut zur Hässlichkeit und zurSelbstentblößung, die nichts mit äußerer Nacktheitzu tun hat.
Doch weil sie dabei als glorreiche Siebenauftreten, wird auch die Peinlichkeit gemindert:Wenn alle - auch die Männer - über "meineMuschi" reden, ist die Ausbeute für klassischeVoyeure eher gering. Dass freilich zugleichdie innere Eskalation bei äußerer Stagnationverwischt, wenn man sie in Gesellschaft darstellt,ist der Preis für diese Kollektivrolle.
So bleibt es - im Bühnenraum von Oliver Menzelund in den Kostümen von Susanne Uhl, zur Musikvon Jacob Suske und den Chorälen von NilsUrban Östlund - bei jugendlicher Gärung. Daes dabei aber um ein Triebmittel geht, dasviel mit Pilzen und Bakterien zu tun hat,wird wohl ein Sauerteig daraus. Der versehrendeund verzehrende Schmerz der Helen Memel, das"Ich kann mich einfach selber essen" wirdin seiner Konsequenz kaum erreicht. Immerhinaber das Publikum: viel Bravo und kein einzigesBuh für die Uraufführung unter verschärftenKritiker-Blicken!
Nächste Vorstellungen: 6. und 7. Oktober,jeweils 20 Uhr, Werft