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Erzählungen Überraschungsfund von Fallada: „Lilly und ihr Sklave“

In einer Gerichtsakte fanden sich unbekannte Erzählungen von Hans Fallada. Sie zeigen ihn einmal mehr als erstaunlich modernen Schriftsteller

Von Sibylle Peine, dpa 07.05.2021, 12:11

Berlin

Ihren literarischen Sensationsfund bezeichnet Johanna Preuß-Wössner als geradezu „unbeschreiblich“. In einer Kieler Gerichtsakte entdeckte die Ärztin bisher unbekannte Texte von Hans Fallada (1893-1947).

Die Akte schlummerte 74 Jahre im Kieler Institut für Rechtsmedizin. Sie war angelegt worden, nachdem Fallada 1925 wegen Unterschlagung zu einer Haftstrafe verurteilt worden war. Neben einem psychiatrischen Gutachten über den Delinquenten fanden sich in dem Konvolut auch fünf Manuskripte des Schriftstellers.

Zwei Erzählungen - „Lilly und ihr Sklave“ sowie „Robinson im Gefängnis“ - waren bisher gänzlich unbekannt. Die anderen Texte „Der Apparat der Liebe“, „Die große Liebe“ und „Pogg, der Feigling“ wurden in anderer Fassung bereits publiziert. Der Aufbau Verlag hat jetzt alle fünf Texte in einem Buch veröffentlicht, versehen mit einem Kommentar der Entdeckerin sowie einer Einordnung des Fallada-Biografen Peter Walther.

Der Fund stammt aus einer Zeit, da Falladas Leben auf einem absoluten Tiefpunkt angelangt war. Schon zuvor hatte der drogenabhängige Schriftsteller zur Finanzierung seiner Sucht immer wieder an verschiedenen Arbeitsstellen Geld entwendet und deshalb auch im Gefängnis gesessen. Doch auf seiner neuen Arbeitsstelle, einem Gut, weiß man nichts davon. Da Fallada als Rendant gute Arbeit leistet, vertraut man ihm einen Wechsel von über 6000 Reichsmark (heute etwa 18 000 Euro) an, den er in Kiel einlösen soll.

Fallada kann der Versuchung nicht widerstehen und verprasst das Geld in Bordellen und bei Saufgelagen innerhalb weniger Tage in einer irrlichternden Tour quer durch Deutschland. Sein Biograph Walther nennt diesen wüsten Rausch „eine Höllenfahrt“. Am Ende stellt sich Fallada erschöpft selbst. Im Gefängnis erhält er die Erlaubnis zu schriftstellerischer Tätigkeit. Zumindest ein Text - „Pogg, der Feigling“, eine Erzählung mit hohem autobiographischem Anteil, enthält Anspielungen auf das jüngst Erlebte.

Das nur dreiseitige neu entdeckte Manuskript „Robinson im Gefängnis“ beleuchtet die dem Autor wohlbekannte Situation als Häftling: „Da stehst du in deiner Zelle und zwischen dir und dir ist nichts mehr.“ In den drei anderen Texten geht es um die Liebe, wobei auffallend ist, dass Fallada in diesen biographischen Erzählungen fast ausschließlich die weibliche Perspektive einnimmt und dabei auch Tabuthemen wie Vergewaltigung und Abtreibung anspricht.

„Lilly und ihr Sklave“ erzählt die Geschichte einer Heranwachsenden. Die 17-jährige Lilly, aus wohlbetuchtem jüdischem Elternhaus, ist eine verwöhnte junge Frau, die ihre Anziehungskraft und Macht über Männer lustvoll austestet. Sehr selbstbewusst und auch überraschend modern dominiert sie das Geschehen. Ihre Machtspielchen gehen so lange gut, bis sie eines Tages die Kontrolle verliert und Opfer einer Vergewaltigung wird. Lilly wird schwanger, lässt ihr Kind heimlich abtreiben und begibt sich schließlich in ein Sanatorium. Dort trifft sie einen sterbenskranken Schriftsteller, der sie in der Meisterschaft des Zynismus unterweist. Als gelehrige Schülerin schlägt sie ihn am Ende kalt mit seinen eigenen Waffen.

Desillusionierung ist auch das vorherrschende Motiv der beiden anderen größeren Erzählungen „Der Apparat der Liebe“ und „Die große Liebe“. Die erste Geschichte schildert die erotischen Verstrickungen und Emanzipationsversuche einer 40-jährigen Ehefrau und Mutter, die in inspirierenden Künstlerkreisen Abwechslung von ihrem langweiligen Eheeinerlei sucht, viel erlebt, aber am Ende doch resigniert.

In der zweiten Erzählung geht es um das Scheitern einer Ehe an den ungleichen Erwartungen und Ansprüchen der beiden Partner. Hier wie auch in „Der Apparat der Liebe“ fließen wieder Erfahrungen aus Falladas eigenem bewegten Leben oder dem seines Umkreises ein. Sie wirken überraschend modern. Fast alle Erzählungen spiegeln letztlich Falladas immerwährende Sehnsucht nach Liebe wider, aber auch seine Qualen, die ihm diese bereitet.