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Biermann-Petition von 1976 Biermann-Petition von 1976: «Wir hatten alle Angst»

15.11.2006, 20:35

Kaisborstel/MZ. - Herr Kunert, sind Sie stolz darauf, ein Erstunterzeichner der Biermann-Petition zu sein?

Günter Kunert: Nein.

Sie nannten die Petitionisten "dürftige Verschwörer". Warum?

Kunert: Einerseits hatten wir alle Angst. Christa Wolf war davon überzeugt, dass wir alle in den Knast kommen. Dürftige Verschwörer also, weil wir alle etwas bibberten. Andererseits spürte jeder die Notwendigkeit, zu handeln. Diese Regierung hatte eine Grenze überschritten. Ausbürgerung, das war die Domäne einer vorhergehenden Macht. Das durfte es nicht mehr geben.

Nach welchem Schlüssel erfolgte die Auswahl der Unterzeichner?

Kunert: Stephan Hermlin hat persönlich die Autoren eingeladen, von denen er glaubte, sie würden diese Petition unterschreiben.

Es sind vor allem Berliner Geister. Es fehlen Namen wie Reiner Kunze oder Erich Loest.

Kunert: Es handelte sich um persönliche Bekanntschaften und Freundschaften.

Heute ist stets von "Protest" die Rede, aber es war doch eine "Petition", eine Bittschrift also. Das ist kein kleiner Unterschied.

Kunert: Es war ein Protest, nur in der etwas gemilderten Form der Petition. Man kann ja eine Bitte so äußern, dass sie anders klingt. In den Augen der Machthaber war die Aktion an sich das Allerschlimmste.

Wie lesen Sie den Text der Petition heute?

Kunert: Ach, den habe ich seitdem überhaupt nicht mehr gelesen.

Wie fanden Sie Biermanns Konzert-Auftritt in Köln?

Kunert: Es war eine Wahnsinnsgeschichte! Grandios!

Worin steckte das Grandiose?

Kunert: Im Zusammenklang zwischen Biermann und seinem damals noch jungen Publikum. Es herrschte Aufbruchsstimmung. Ein Aufbruch, der ja leider in der DDR nicht stattfinden sollte.

Worin besteht die künstlerische Leistung Biermanns?

Kunert: Wolf Biermann ist wahrscheinlich einer der letzten großen Gedicht- und Liedersänger in unserer Zeit gewesen. Danach wird kommen nichts Nennenswertes, um Brecht zu zitieren.

Was begeisterte Sie 1976 an Biermann? Dessen großartige Frechheit oder die Ansage "So oder so, die Erde wird rot"?

Kunert: Letzteres bestimmt nicht. Man fühlte sich mit ihm identisch in dem Protest und in dem Herausschreien dessen, was viele Leute bewegt hat. Er war die Stimme vieler Menschen in Ost und West, das war das Außerordentliche.

Es ist heute oft die Rede davon, dass die Ausbürgerung der Anfang vom Ende der DDR gewesen sei. War es nicht viel mehr das Ende der massenhaften SED-internen Partei-Loyalität?

Kunert: Es war der Abschied vieler Intellektueller und Schriftsteller, die bislang nur die Faust in der Tasche geballt hatten, von der DDR. Es war der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Hatte denn die DDR-Regierung eine Alternative zum Instrument der Ausbürgerung?

Kunert: Ach, diese Leute lebten ja in einer Fiktion, in einer irrealen Welt. Sie hatten keine Ahnung davon, wie tief das kritische Denken schon weithin verwurzelt war und sich aussprach, wenn auch manchmal hinter der hohlen Hand.

Die SED-Chefs begriffen nicht, was Biermanns Auftritt mit ihrer DDR zu tun haben sollte.

Kunert: Vor allem haben sie überhaupt nicht ahnen können, dass sich Personen wie der gute Genosse Hermlin plötzlich auf die andere Seite stellen. Das war eine größere Erschütterung als das Biermannkonzert. Für uns Erstunterzeichner war es ein großer Vorzug, dass sich so viele Leute an die Petition angehängt haben. Man hätte Hunderte einsperren müssen, das ging nicht.

Es war die erste Kettenbriefaktion vor den Listen des Neuen Forum im Spätsommer 1989.

Kunert: Ja. (Lacht)

Dann kamen die SED-Ausschlüsse: Sie wurden herausgeworfen, Gerhard Wolf auch, seine Frau Christa Wolf aber nicht. Warum diese Unterschiede im Verfahren?

Kunert: Teile und herrsche.

Weil sie sich nicht zu den Ereignissen von 1976 äußern wollte, hat Christa Wolf im "Spiegel" gesagt, dass diese noch gar nicht richtig aufgearbeitet und dargestellt seien. Meinen Sie das auch?

Kunert: Nein. Ich glaube, sie hat sich gedrückt.

Hören Sie ab und an noch die alten Biermann-Platten?

Kunert: (lacht) Nee. Biermann kommt alle Jahre mal wieder vorbei und dann hat er sowieso aus Versehen die Klampfe dabei.