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Zum Tod von Wolfgang Schnur Zum Tod von Wolfgang Schnur: Der Schattenmann der Angela Merkel erfand

Von Steffen Könau 20.01.2016, 14:11

Halle (Saale) - Es hätte alles anders laufen sollen, ja müssen. Wolfgang Schnur atmet tief durch und seufzt theatralisch. „Ich muss den Kelch ganz austrinken, bis auf den letzten Tropfen“, sagt der Mann, der sich in seinen großen Tagen in der Wendezeit berufen gefühlt hatte, die Bürgerinnen und Bürger der untergehenden DDR in eine neue, lichte Zeit zu führen.

„Hier steht der künftige Ministerpräsident“, hat der damals 45-Jährige an jenem Märztag im Jahr 1990 auf dem Markt in Halle gerufen. Und die Leute haben gejubelt. Deutschland-Fahnen wehen, der Bundesminister Klaus Töpfer war mit an die Saale geeilt, um Schnur, dem Spitzenkandidaten der „Allianz für Deutschland“, im Wahlkampf zu helfen. Wolfgang Schnur ist 45, ein Schattenmann von der dunklen Seite der DDR, der sich eben anschickt, selbst nach der Macht zu greifen. Der Jubel unten, die Sprechchöre, das Klatschen. Schnur fühlt sich für einen Augenblick weggerissen von der Euphorie der Massen, die nur auf ihn gewartet zu haben scheinen. „Bis dahin war ich immer jemand, der im Hintergrund agiert hat - und plötzlich spürte ich mein Talent, eine Menge zu begeistern.“

Es sind noch acht Tage bis zur Volkskammerwahl, die ihn, den Diplom-Juristen mit Kirchenmandat, zweifellos zum Staatschef der DDR machen wird. Schnur, ein kleiner, verhuschter Mensch mit spitzem Gesicht, der mit schmalen Lippen sehr schnell spricht, ist sicher, dass er den Posten kann. „Ich wollte immer schon der Nachfolger von Egon Krenz werden“, sagt er später, lange nach seinem Sturz, inzwischen versteckt in einem Kellerbüro einer Villa in Berliner Randlage, die mal Hermann Göring gehört haben soll. Wolfgang Schnur, aufgewachsen als vermeintliche Vollwaise bei einem Landwirt auf Rügen, denkt langfristig. Nicht die DDR will er abschaffen, sondern in der SED und in der DDR Karriere machen bis ganz nach oben. Das ist der Plan, zumindest bis 1988.

Den Westen hat Wolfgang mit 16 abgewählt. Damals entdeckt er nach dem Tod des Pflegevaters, dass seine leibliche Mutter doch noch lebt. Sechs Tage vor dem Mauerbau fährt Wolfgang Schnur hinüber in den Taunus, um die Frau zu suchen, die ihm das Leben geschenkt und ihn dann zurückgelassen hat. Ein Desaster. „Ich kam mir vor wie ein wandelnder Vorwurf an meine Mutter.“ Schnur beschließt, in die DDR zurückzukehren.

Die folgenden drei Jahrzehnte kennt der gelernte Maurer nur noch ein Ziel: Er will der Welt beweisen, was er wert ist. Was immer ihn das auch kosten mag. Als sich das Ministerium für Staatssicherheit direkt nach seiner Rückkehr meldet, um ihn auf Spionageverdacht abzuprüfen, gibt Schnur bereitwillig Auskunft. Und am Ende des Gesprächs, das er als eines unter Gleichgesinnten empfindet, unterschreibt er eine Verpflichtungserklärung. „Der Sozialismus, das war ja meine Sache“, begründet er das viele Jahre später, „ich wollte Politbüromitglied werden.“

Auf der nächsten Seite: Warum Schnur für die Stasi so wichtig war und wie Schnur seine IM-Tätigkeit rechtfertigte.

Schnur ist eifrig, er tut mehr, als er muss. Die Stasi erkennt bald, was für ein Fang ihr da geglückt ist. Wolfgang Schnur ist hochintelligent, kann mit Menschen umgehen, sie locken und überzeugen. Vor allem aber kennt IM „Torsten“ keine Skrupel. Er verrät jeden, er buhlt mit ausschweifenden Traktaten zu Verfehlungen von Geliebten, Freunden, Bekannten und Kollegen um die Liebe seiner Führungsoffizieren. Das MfS ist misstrauisch, denn so viel Hingabe an die schmutzige Arbeit eines Verräters ist das Ministerium nicht gewohnt. Schnur wird eine Zeit lang gepäppelt, er ist das Wunderpony der Rostocker Bezirksbehörde. Dann aber sortiert ein Federstrich ihn aus. Irgendetwas stimme nicht mit diesem Mann. Da sind die Genossen Offiziere aber an den Falschen geraten. Schnur ist noch keine 30 Jahre alt, aber beseelt von einem Geltungsdrang, der keine Angst kennt. Er schreibt einen Beschwerdebrief an Stasi-Chef Erich Mielke und fordert, als IM mehr gefordert und gefördert zu werden. „Mit meiner ganzen Geschichte als Kind einer jüdischen Mutter und Sohn eines von den Nazis ermordeten Vaters“, findet Wolfgang Schnur, wolle er sich einbringen. Für den Frieden, für die DDR!

Mielke überzeugt das, auch wenn die Lebensgeschichten von Mutter und Vater Schnurs Fantasie entspringen. Das MfS hilft seinem fleißigsten Freiwilligen zu einem Jura-Studium und anschließend sogar zu einer der in der DDR so seltenen Zulassungen als Einzelanwalt. Schnur platziert sich an der Nahtstelle zwischen Kirche, DDR-Opposition und Ausreiseantragstellern: Er, religiös wie ein Resopaltisch und oppositionell wie Mielke selbst, kann leichthin die Farbe jeder Umgebung annehmen, in der er sich bewegt. Schnurs Kampf tobt überall, jeden Tag und nachts geht es weiter. Stundenlang sitzt er hier und fertigt Gedächtnisprotokolle über Sitzungen der Evangelischen Kirche in Mecklenburg und der Evangelischen Kirchen der DDR an. In beiden Institutionen ist Schnur hochrangiger Funktionär. Außerdem dient er der Kirche als Vertrauensanwalt, er vertritt Dissidenten, Ausreisewillige und Wehrdienstverweigerer.

14 Stunden sei er pro Tag in der Kanzlei gewesen, oder auf holprigen Straßen unterwegs zu den Bezirksgerichten. „Mir haben sie die schweren Fälle geschickt, die kein Kollege zu vertreten gewagt hat“, sagt Wolfgang Schnur. Er zweifelt nie, er hält die Hilfe für die, denen niemand helfen kann, für seine Aufgabe. „Denn ich wollte den Menschen helfen“.

Am besten ging das, schwor der Diplom-Jurist noch Jahre nach seinem Sturz, wenn er sich der Stasi bediente. „Ich war fest davon überzeugt, dass ich die benutzen kann.“ Ein Fehler, das sei ihm später klargeworden, denn irgendwie, unbemerkt, habe die Stasi ja eigentlich doch ihn benutzt.

Aber gewollt habe er das nicht, beschwerte sich Wolfgang Schnur, weit vorgerutscht auf seinem Stuhl in dem halbeingeräumten Büro. Alles nur ein großes Missverständnis, alles nur böse Nachrede. „Dass es nach der Wende hieß, der Schnur hat alle verraten, das stimmt nicht.“ Vielmehr sei vieles, was heute nach Denunziation schmecke, „unter den Bedingungen der Diktatur“ das einzige Mittel gewesen, „meine Klienten für das System uninteressant zu machen“.

Dass er dabei keine Scham kannte und sich seine drastischen Sätze, sorgsam vom MfS protokolliert, nach einem Mann anhören, dessen MfS-Mandat ihn zum Einsatz gegen seine Mandanten verpflichtet, gesteht Schnur zu. Freizeithure, Asozialer, Feind der DDR hat er seine Klienten genannt. „Wenn man das liest“, sagt er, „könnte man glauben, ich bin das Stasi-Schwein.“ Doch die ihm mit diesem Argument seine Anwaltszulassung wegnahmen, hätten nicht in seinem Anzug gesteckt. „Nie hätte ich Klier und Krawczyk helfen können, wenn ich nicht so mit der Stasi gehandelt hätte.“

30.000 Schicksale hat sich Wolfgang Schnur aber der Habenseite gutgeschrieben. Die habe er alle in den Westen gebracht, mit Hilfe der Stasi oder mit einem seiner Tricks, der DDR die Lust am weiteren Streit mit notorischen Nörglern zu verderben: „Ist das etwa nichts?“

Schnur ist lange nach seinem Sturz, den seine Führungsoffiziere in Gang setzen, als sie sehen, wie ihr Spitzenmann auf ein gesamtdeutsches Spitzenamt zusteuert, nach außen hin überzeugt, Achtung verdient zu haben. Und den Posten oben in der Politik, den ihm Helmut Kohl versprochen hat. War er nicht „gegen den Willen der Stasi in die Opposition gegangen“ ist? Hat er nicht als Mitgründer des Demokratischen Aufbruchs alles gewagt? Hat er nicht Angela Merkel, die Tochter seines langjährigen Kirchenfreunde Horst Kasner, zum Demokratischen Aufbruch geholt? Und sie zu seiner Sprecherin gemacht, so dass sie Helmut Kohl auffiel? Der ihr ein Jahr später ein Ministeramt gab?

Wolfgang Schnur glaubt das, wie er auch glaubt, dass Deutschland mit seinem Sturz einen brillanten Kopf verloren hat. Was hätte nicht alles werden können, mit ihm am Ruder! Nur deshalb, behauptete er, habe er die ersten Beweise für seine Stasi-Tätigkeit geleugnet. Zurückgetreten sei er nur, so Schnur, um der Partei einen letzten Dienst zu erweisen. Helmut Kohl hat sich allerdings nie bedankt. Auch Angela Merkel nicht.

Wolfgang Schnur starb bereits am vergangenen Samstag an den Folgen einer Prostatakrebs-Erkrankung in einem Krankenhaus in Wien. Er wurde 71 Jahre alt.