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100. Jahrestag Attentat von Sarajevo 100. Jahrestag Attentat von Sarajevo: Drei Schüsse, ein Weltkrieg

Von Harald Biskup 27.06.2014, 13:42

Eine Wagenkolonne aus schwarzen Limousinen mit Blaulicht fährt vor der Kaisermoschee vor. Herren im dunklen Zwirn steigen aus, flankiert von Personenschützern. Unter ihren Jacketts tragen sie, kaum verborgen, Revolver am Halfter. Eine alltägliche Szene, kaum erwähnenswert? Nicht in diesen Tagen und nicht hier, wenige Schritte von der Latinski Most entfernt, der Lateinerbrücke, einer osmanischen Steinbogenbrücke über den Fluss Miljacka. Am 28. Juni 1914 um 10.45 Uhr hat sich an der nördlichen Auffahrt der Brücke Weltgeschichte ereignet. Von hier aus gab der 19-jährige Gymnasiast Gavrilo Princip die tödlichen Schüsse auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Frau Sophie ab.

Japanische Touristen posieren vor den Nobelkarossen. Sie wissen vermutlich nicht, dass hier der Großmufti residiert, der oberste Repräsentant der bosnischen Muslime. Unweit von hier in der Altstadt weisen Schmuckgeschäfte durch Piktogramme an der Ladentür darauf hin, dass im Inneren nicht nur Rauchen und Eisessen verboten ist, sondern auch das Tragen von Waffen. Das kennt man sonst eher aus Texas. Händler legen Zwiebel und Kohlköpfe auf altertümliche Waagen, eine Bettlerin mit zerfurchtem Gesicht hält die Hand auf. Auf der anderen Flussseite liegt das Café, in dem der Attentäter gesessen und eher zufällig eine Chance erkannt hatte, seinen Plan umzusetzen. Heute beherbergt das Gebäude ein kleines Museum. Seit kurzem ziert das Haus ein Spruchband mit Konterfeis des Erzherzogs und seines Mörders. „Die Straßenecke, an der das 20. Jahrhundert begann“, steht auf Englisch unter den leicht verfremdeten Fotos.

Die beiden Männer, Opfer und Täter, sozusagen auf die gleiche Stufe zu stellen, beweist so kurz vor dem Jahrestag Mut. Denn Bosnien-Herzegowina, das kleine, nach Balkan-Krieg 1995 ethnisch-politisch geteilt, ist auch tief gespalten in der Frage, wie es mit dem sperrigen Datum umgehen soll. Wie groß die Empfindlichkeit bei vielen muslimischen Bosniern und orthodoxen Serben in dieser Frage ist, zeigen die heftigen Reaktionen auf das Transparent, kaum dass es am Museum angebracht war. Gegenüber hat noch einige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, für dessen Entfesselung die Schüsse von Sarajevo je nach Betrachtungsweise den Auslöser oder den Vorwand darstellten, eine Franz-Ferdinand-Statue gestanden. Titos Partisanen entdeckten später in Gavrilo Princip einen Bruder im Geiste und erklärten ihn zum Volkshelden. Die Brücke trug 40 Jahre lang seinen Namen. Terrorist oder Freiheitskämpfer – auf diese simple Alternative, die die zum Teil aufgeregte Debatte in der Stadt beherrscht, mag sich Mirsad Avdic nicht einlassen. Eigentlich. Dann aber unterbricht der Kurator des 2006 mit amerikanischer und EU-Unterstützung eröffneten Musems eine kleine Führung und stellt fest: „Zweifellos hat es sich um einen individuellen terroristischen Akt gehandelt.“ Die kleine Schau macht deutlich, dass Bosnien-Herzegowina von Österreich-Ungarn annektiert war. Ein Film aus jugoslawischer Produktion mit nachgestellten Sequenzen zeigt, wie jubelnde Menschen „an dem Tag, der die Welt schockiert hat“, dem königlichen Konvoi zujubeln. Der Erzherzog in Paradeuniform und seine Frau ganz in Weiß sind als lebensgroße Puppen vertreten.

In einer Glasvitrine liegt ein Original der Tageszeitung „Bosnische Post“ vom 28. Juni 1914. Die „3. Extraausgabe“, Preis zehn Heller, titelt „Die Attentate“. Denn bevor Franz Ferdinand und Sophie erschossen wurden, hatte es den Versuch eines Mitverschwörers gegeben, ihren Wagen in die Luft zu sprengen, der aber misslang. Der Berichterstatter notierte, dass die „Kaltblütigkeit des hohen Paares“ nach dem überstandenen Anschlag von der Menschenmenge bewundert worden sei.

Dann der zweite Versuch mit der Pistole Princips. „Der Attentäter feuerte auf den Erzherzog drei Schüsse ab. Der erste Schuss traf Seine Hoheit am Hals, die beiden anderen Schüsse trafen ihn ins Bein und die Herzogin von Hohenberg in die Bauchgegend.“ Der schnell überwältigte 19-Jährige gab später an, er habe nicht gewusst, dass „die Dame“ schwanger gewesen sei, sonst hätte er sie nicht getötet. Heute weiß man, dass zu der zwar geplanten, aber letztlich, was die konkrete Ausführung angeht, doch eher zufälligen Tat ein Wendemanöver an einer engen Stelle beigetragen hat. Außerdem standen Zeitplan und Route des Besuchs in der Zeitung.

Das Wort „Attentat“ hat als „atentat“ Eingang ins Bosnische gefunden, und allenthalben ist der historische Tag in der Hauptstadt präsent. In dieser „wundersamen, ambivalenten, nuancenreichen und kosmopolitischen Stadt“, als die sie Sarajevo-Kenner Erich Pello beschreibt: Unzählige Moscheen, katholische und orthodoxe Kirchen, Koranschulen, Synagogen, Universitäten. Prachtbauten aus der Habsburgerzeit, Gründerzeit-Villen, Wohnblocks aus der sozialistischen Ära. Hinzu kommen wie Fremdkörper glitzernde Einkaufszentren und Hochhaustürme wie der Twist Toweraus. In den Wohnvierteln sind neue Moscheen entstanden, gesponsert vor allem von Saudi-Arabien. In Sarajevo hört man es nicht gern, dass das Gedenken vor allem eine Angelegenheit des Auslands sei, auch wenn die erste Initiative von der französischen Regierung ausging. Gern hätte man François Hollande und Angela Merkel am Samstag unter den Festgästen gesehen; nun wird immerhin der österreichische Bundespräsident Heinz Fischer die ehemalige Besatzungsmacht repräsentieren. Er kommt in der Entourage der Wiener Philharmoniker, die in dem wieder in hellem Glanz erstrahlenden alten Rathaus auftreten werden.

Eine Zeit lang war spekuliert worden, auch der serbische Präsident Tomislav Nicolic könne aus Belgrad herüberkommen, um ein Zeichen zu setzen. Nun bleibt er zu Hause – angeblich auch, weil Sarajevos bosnischer Bürgermeister sich geweigert haben soll, eine Tafel zu entfernen, die auf die Zerstörung des Prachtbaus durch die bosnisch-serbische Armee 1993/94 hinweist. Auch die Programmauswahl war heikel. „Ist es nötig“, fragt der seit sieben Jahren in Sarajevo lebende deutsche Historiker Nicolas Moll, „dass man unbedingt Haydns Kaiserquartett spielt?“ Die Animositäten sind 19 Jahre nach Kriegsende so groß, dass auch ein Streichquartett von 1797 für politische Misstöne sorgen kann. Und so begehen die Serben den Tag unter sich in der Stadt Visegrad. Ein gespaltenes Gedenken, das von nationalistisch orientierten Parteien befeuert wird.

All das scheint die Menschen in der Stadt kaum zu tangieren. In der Altstadt das übliche Gewusel, die unzähligen Restaurants sind gut besucht, man isst Cevapcici im Teigmantel und trinkt Bier. Im Schatten der Hauptmoschee gibt es Public Viewing. Es lief nicht gut für die bosnische Mannschaft, jetzt können die Leute jubeln über den nutzlosen 3:1-Sieg über den Iran. Heute sind zwischen 70 und 80 Prozent der mit Vororten gut 400 000 Einwohner Muslime. Immer wieder stößt man auf Menschen, die die fast vier Jahre währende Belagerung Sarajevos durch die Serben in Deutschland überlebt haben.

„Wenn wir Krieg sagen, meinen wir diesen letzten schrecklichen Krieg.“ Nicht nur in dieser Einschätzung sind sich die Lehrerinnen Snjezana Karaga und Armina Pozderac einig, Bosniakin die eine, Serbin die andere. Beide unterrichten am 4. Gymnasium in Ilidza Deutsch und sie berichten, dass die meisten Schüler „kriegsmüde“ sind. Heute werde den Jugendlichen ein neutrales Bild von dem 1914-Attentat vermittelt. „Zu unserer eigenen Schulzeit haben wir ein Heldenepos gelernt“, erzählen beide. Mit am Tisch sitzt der Filmemacher Adnan Softic, der seit 20 Jahren in Hamburg lebt, aber regelmäßig in „mein Sarajevo“ zurückkehrt. Natürlich sei die Gestalt des Attentäters in den 80er Jahren ideologisch verklärt dargestellt worden, der etwas Gutes gewollt habe. Historiker Moll, den wir am Rande einer internationalen Sarajevo-Konferenz wiedertreffen, hält Princip nicht für einen verwirrten jungen Mann oder für eine von Belgrad gesteuerte Marionette. „Er und seine Gruppe Junges Bosnien lehnten sich gegen einen Okkupator auf.“ Insofern sei die Vereinnahmung des Attentäters als „vorweggenommener Partisan“ durch Titos offizielle Geschichtsschreibung sogar irgendwie nachvollziehbar.

Der kleine Friedhof Kosevo liegt nur zehn Autominuten vom Zentrum entfernt. Hier hat Gravrilo Princip seine letzte Ruhe gefunden. Der zu Kerkerhaft Verurteilte starb 1918 an Tuberkulose. Die kaminrot gestrichene Rückwand der orthodoxen Kapelle wirkt renoviert. Doch auch kurz vor dem Gedenktag mutiert das Grab nicht zur Pilgerstätte. „Vielleicht kommen am Samstag ja ein paar Serben“, meint der Taxifahrer lakonisch. Sogar die die Blumenfrau am Eingang behauptet, sie wisse nicht, wer neben der kleinen Kirche begraben ist.

Einer, der früher an jedem 28. Juni einen Blumenstrauß abgelegt hat, ist der Chef des Hotels M 3 in Ost-Sarajevo. Gavrilo Princip der Dritte, ein Großneffe des Attentäters. Er grüßt von der Kaffeebar herüber, aber reden will er nicht. Ihm ist seine Popularität lästig. Einheimischen Journalisten hat er berichtet, bei seiner Geburt 1952 müssten wohl alle ziemlich betrunken gewesen sein. Eine Männerrunde um seinen Vater Marko habe damals beschlossen, ihn genauso zu nennen wie seinen Großonkel, der durch seine Tat Sarajevo weltberühmt gemacht hat. Und er hatte auch noch erzählt, dass er und seine Familie in der Tito-Ära ein paar Privilegien genossen hätten. Nichts weist im Hotelprospekt auf seinen berühmten Namen hin, den er heimlich wahrscheinlich schon oft verflucht hat.