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Kriminalität Geständnis im Prozess um versuchten Mord an Pflegerin

Ein Krankenhaus soll der Ort für Gesundheit und Heilung sein. Für einige Pflegekräfte aber wird er inzwischen oft zum Gegenteil: Sie erleben Gewalt am Arbeitsplatz - bis hin zum Mordversuch.

Von Britta Schultejans, dpa Aktualisiert: 20.09.2021, 19:33
Ein Schild „Notaufnahme“ mit einem roten Kreuz hängt an einem Krankenhaus in Hannover. Viele Pflegekräfte erleben laut Studien Gewalt im Krankenhaus.
Ein Schild „Notaufnahme“ mit einem roten Kreuz hängt an einem Krankenhaus in Hannover. Viele Pflegekräfte erleben laut Studien Gewalt im Krankenhaus. picture alliance / dpa

München - „Dann ist er sofort ins Zimmer, hat die Türe zugeschlagen und hat sofort angefangen. Er hat einfach losgestochen“, sagt die 64 Jahre alte Krankenschwester am Montag vor dem Landgericht München II. „Dann hab ich das Schreien angefangen, ganz laut“, erinnert sie sie.

„Ich weiß noch, dass ich gefragt habe: Warum machen Sie das?“ Angst habe sie in dem Moment wunderlicherweise gar nicht empfunden - eher Erstaunen: „So stirbst Du also“, habe sie gedacht. „Du wirst erstochen, damit habe ich nicht gerechnet.“

Es war der 25. November vergangenen Jahres, mitten in der Nacht, als der Patient in der Tür des Schwesternzimmers in einer psychiatrischen Einrichtung im oberbayerischen Peiting stand und um Medikamente bat. Als sie sich zum Medizinschrank umdrehte, stach er mit einer Nagelschere auf sie ein, die er in seiner Faust versteckt hatte. Dies wirft ihm die Staatsanwaltschaft vor, die ihn des versuchten Mordes beschuldigt, und so sagt es der Deutsche zum Prozessauftakt selbst.

18 Stiche vor allem in den Hals und ins Gesicht der Krankenschwester waren es nach Angaben der Staatsanwaltschaft. Sie verfehlten die Halsschlagader nur knapp. Erst als eine Kollegin dazukam, soll der Mann von ihr abgelassen haben. Das Opfer kam in kritischem Zustand ins Krankenhaus. Sie habe gedacht, die Tatwaffe sei ein Messer. „Ich hab gedacht, jetzt ist alles zerfetzt.“

Beschuldigter wollte ins Gefängnis

Eine Tötungsabsicht bestreitet der Beschuldigte vor Gericht. Er habe die Frau lediglich schwer verletzen wollen, damit er danach ins Gefängnis komme und so die psychiatrische Einrichtung, in der er sich befand, verlassen könne. „Ich wollte, dass das ordentlich blutet“, sagte er zu einer psychiatrischen Gutachterin.

Er habe Angst vor dem Chef der Einrichtung gehabt, so der 32-Jährige, den Gericht und Staatsanwaltschaft für paranoid und schizophren halten. Denn der Leiter habe die Fähigkeit besessen, die Psychen von Patienten teilweise untereinander auszutauschen. Er habe Angst gehabt, dass er „psychisch behindert aus diesem Heim rausgehe“.

So schockierend das Ereignis - ein Einzelfall ist es bei weitem nicht. Viele Pflegekräfte erleben laut Studien Gewalt in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen.

In einer 2018 veröffentlichten Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) im Auftrag der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) gaben 70 Prozent der 2000 befragten Pflegekräfte an, in den vergangenen zwölf Monaten im Beruf körperliche Gewalt erfahren zu haben. Bei verbaler Gewalt waren es sogar 94 Prozent. Die höchsten Werte zeigten sich laut einer BGW-Sprecherin im Bereich Krankenhaus: Dort nannten 97 Prozent der Befragungsteilnehmer verbale und 76 Prozent körperliche Gewalterlebnisse.

Möglicherweise hohe Dunkelziffer

Das Deutsche Krankenhausinstitut (DKI) listete für das Jahr 2018 im Durchschnitt 5,7 Unfallmeldungen je Krankenhaus auf, die auf körperliche Übergriffe zurückzuführen waren. Die Zahl der Übergriffe ohne Unfallfolgen war deutlich höher. Ein Sprecher der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) weist aber darauf hin, dass möglicherweise eine hohe Dunkelziffer bestehe. „Ein Grund dafür kann sein, dass Beschäftigte etwa verbale Übergriffe nicht als Gewalt registrieren oder kleinere körperliche Übergriffe nicht melden.“

Dass Kliniken daher inzwischen Sicherheitsdienste einsetzen, sei kein Einzelfall. Zahlen dazu, in wie vielen Krankenhäusern in Deutschland das bisher der Fall ist, hat die DKG zwar nicht. „In vielen Kliniken werden sie aber vor allem in den Notaufnahmen eingesetzt.“

Das Klinikum Nürnberg ist in Sachen Sicherheit ein Vorreiter. Dort gibt es inzwischen auch eine Anlaufstelle für Mitarbeiter, die im Dienst attackiert worden sind. Andreas Röttenbacher, Leiter der Abteilung Sicherheit, berichtet von Vorfällen, die nicht auf psychiatrischen Stationen oder in der Notaufnahme - die für Gewalttaten gegen Ärzte und Pfleger schon länger bekannt seien - stattfanden, sondern „auf ganz normalen Stationen“, wie er sagt.

Situation durch Corona noch verschärft

Im März dieses Jahres beispielsweise habe ein Patient versucht, Pflegerinnen aus dem Schwesternzimmer auszuräuchern - und dazu mit Franzbranntwein Feuer auf der Krankenhausstation gelegt. Im Juli sei ein Patient auf den Sicherheitsdienst losgegangen, habe vor der Klinik eine große Steinplatte auf den Mitarbeiter geworfen, der diese gerade noch mit dem Arm abwehren konnte.

Nach Angaben von Kathrin Weidenfelder, Gewerkschaftssekretärin bei Verdi Bayern für den Fachbereich Gesundheit, soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen, hat die Corona-Pandemie die Situation sogar noch einmal verstärkt - beispielsweise, weil uneinsichtige Angehörige handgreiflich wurden, wenn sie das Krankenhaus nicht betreten dürfen. Sie sagt: „Mit Corona ist es noch einmal schlimmer geworden.“

Als die angegriffene Krankenschwester während ihrer Aussage vor dem Landgericht München II eine Pause macht, ergreift ihr früherer Patient das Wort: „Tut mir leid, dass ich das gemacht habe“, sagt er. Und sie: „Danke, das glaube ich Ihnen.“