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Corona-Pandemie Allein auf weiter Flur: Wie sinnvoll sind Ausgangssperren?

Verfassungsrechtlich gibt es Zweifel an den geplanten nächtlichen Ausgangsbeschränkungen. Zudem werden Stimmen laut, dass sie aus epidemiologischer Sicht nichts bringen. Stimmt das?

Von Sebastian Fischer, dpa Aktualisiert: 25.09.2021, 08:59
Ein Stop-Piktogramm an einer Rolltreppe leuchtet am späten Abend nach Beginn der Ausgangsbeschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie in der Innenstadt.
Ein Stop-Piktogramm an einer Rolltreppe leuchtet am späten Abend nach Beginn der Ausgangsbeschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie in der Innenstadt. Moritz Frankenberg/dpa

Berlin - Sie gehören zu den umstrittensten Punkten im neuen Infektionsschutzgesetz: nächtliche Ausgangsbeschränkungen. In Regionen mit besonders vielen Corona-Neuinfektionen sollen zwischen 22 und 5 Uhr die Menschen weitestgehend in ihren Wohnungen bleiben.

In Bundesländern wie Brandenburg oder Baden-Württemberg sind ähnliche Regeln bereits umgesetzt. Jogging-Runden allein im Park oder im Wald sollen ab Mitternacht untersagt sein - auch wenn man kaum jemandem begegnet. Vielen geht das zu weit. Zu Recht?

BEHAUPTUNG: Nächtliche Ausgangssperren sind zur Bekämpfung des Infektionsgeschehens nutzlos.

BEWERTUNG: Unklare Datenlage. Experten unterscheiden zwischen Solo-Spaziergängen und Wegen zu privaten Treffen.

FAKTEN: In anderen Ländern hat sich durchaus gezeigt: Nach der Einführung einer nächtlichen Ausgangssperre sanken die Zahlen der Corona-Neuinfektionen. Alles gut also? Nein. Denn es ist bisher nicht geklärt, wie viel Anteil daran diese eine Maßnahme hatte. In der Regel wurde sie von weiteren Vorgaben wie strengeren Kontaktbeschränkungen und gegebenenfalls Schulschließungen flankiert. Zudem gab es mitunter auch tagsüber Ausgangssperren.

Forscher um ein Team der Universität Oxford nahmen jüngst den Einfluss einzelner Maßnahmen auf das Infektionsgeschehen genauer unter die Lupe. Ihre Ende März publizierte Studie ergab: Nächtliche Ausgangsbeschränkungen können die Verbreitung des Covid-19-Erregers um rund 13 Prozent reduzieren. Einschränkend schreiben sie aber, dass die Maßnahme nicht leicht vom Effekt paralleler Regelungen zu unterscheiden sei. Begutachtet wurde die Studie bislang nicht.

Grundsätzlich stellt sich die Frage: Ist der einzelne Nachtschwärmer oder Allein-Jogger tatsächlich eine Gefahr? Seit Monaten ist bekannt, dass im Freien das Risiko für eine Ansteckung mit dem Coronavirus im Gegensatz zu Innenräumen gering ist. „Im Freien finden so gut wie keine Infektionen durch Aerosolpartikel statt“, heißt es von der Gesellschaft für Aerosolforschung (GAeF). Die Diskussion über Ausgangssperren halten die Experten für „irreführende Kommunikation“.

Dass ein nächtlicher Spaziergang unproblematisch ist, weiß auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). „Es geht ja nicht darum, ob jemand alleine abends um zehn unterwegs ist“, sagte er vergangenen Donnerstag. Am Montag hat sich die Regierungskoalition aus SPD und Union darauf geeinigt, dass Joggen und Spaziergänge bis Mitternacht erlaubt sind.

Die Ausgangsbeschränkungen sollen vor allem Treffen in geschlossenen Räumen mit erhöhtem Ansteckungsrisiko unterbinden. „Von wo nach wo sind wir unterwegs?“, fragt Spahn. Für ihn sind Ausgangssperren also ein Mittel, um grundsätzlich Begegnungen zu unterbinden.

Das sagt auch der Mobilitätsforscher Kai Nagel von der Technischen Universität Berlin: „Nächtliche Ausgangsbeschränkungen zielen auf die privaten Besuche.“ Es solle nicht der Eindruck entstehen, die Leute sollten von draußen nach drinnen, das sei „wirklich die falsche Richtung“, erklärte Nagel in einer Bundestagsanhörung am Freitag. Es sei „nicht wissenschaftlich (zu) verteidigen“, wenn etwa Gruppen im Park mit ausreichend Abstand säßen und dann heimgehen müssten.

Nagel und seine Kollegen von der TU Berlin und vom Zuse-Institut schreiben in ihrer jüngsten Mobilitätsstudie: „Sehr gut wirksam wäre ein (fast) vollständiges Verbot privater Besuche.“ Sie verweisen auf Erfahrungen in Großbritannien, wo der Aufenthalt im öffentlichen Raum zum Zweck eines Privatbesuchs grundsätzlich verboten war - und das rund um die Uhr. Das habe in der Modellierung einen viel höheren Einfluss auf die Pandemie als die geplanten nächtlichen Ausgangsbeschränkungen in Deutschland. Der R-Wert, der das Infektionsgeschehen abbildet, würde damit um rund 0,5 statt um etwa 0,1 Punkte sinken.

Ein Projekt der Humboldt-Universität Berlin und des Robert Koch-Instituts zeigt zudem: In den ersten drei März-Wochen entfielen gerade einmal 7,4 Prozent der deutschlandweiten Mobilität auf die Zeit zwischen 22 und 5 Uhr. Welchen Anteil dabei Wege zu Privattreffen haben, ist aus den Daten nicht ersichtlich. Der Effekt der Ausgangssperren dürfte aber womöglich überschaubar sein.

Dass strenge Kontaktschranken mehr bringen, zeigen auch die Erkenntnisse der Oxford-Studie. Im Gegensatz zur Reduzierung der Corona-Verbreitung um 13 Prozent bei den nächtlichen Ausgangssperren sehen die Forscher zum Beispiel einen doppelt so hohen Effekt (minus 26 Prozent) bei strengen Kontaktbeschränkungen wie die Begrenzung aller Treffen auf höchstens zwei Menschen.

Zudem wird befürchtet, dass sich Treffen und Besuche einfach zeitlich verschieben könnten. Das Werkzeug der nächtlichen Sperren könne „relativ schnell stumpf werden“, hieß es von den Mobilitätsforschern der TU Berlin bereits Mitte März.

Manch einem dürfte es auch sauer aufstoßen, dass die Maßnahme erneut auf die Freizeit zielt. Auf den Arbeitsweg in überfüllte Betriebe darf man sich weiterhin machen - und das rund um die Uhr.